11 - Nie sollst Du vergessen
das Fremde fotografieren. Es sollen Porträts sein, ich liebe Porträts. Aber die Gesichter Fremder sollen es sein; nicht die von Fremden in London, da könnte ich natürlich Hunderttausende finden, aber die sind alle schon anglisiert, auch wenn sie das gar nicht merken. Nein, ich möchte gern was ganz anderes machen. Vielleicht in Afrika, Indien, der Türkei oder Russland. Ich weiß es selbst nicht genau.«
»Aber auf jeden Fall Porträts?«
»Ja. Die Menschen verstecken sich nicht vor der Kamera, wenn die Aufnahme nicht für ihre eigene Verwendung ist. Und genau das fasziniert mich so: die Offenheit ihres Blicks. Es kann einen direkt süchtig machen, diese Gesichter ausnahmsweise einmal ohne Maske zu sehen.« Sie trank von ihrem Sherry und fügte hinzu: »Aber du bist doch nicht hergekommen, um dich mit mir über meine Fotografien zu unterhalten.«
Er ergriff die Gelegenheit zur Flucht, auch wenn er sich selbst erbärmlich fand. »Ist Simon im Labor?«, fragte er.
»Soll ich ihn holen?«
»Nein, nein, ich geh einfach hinauf, wenn es dir recht ist.«
Natürlich, erwiderte sie, er wisse ja den Weg. Sie trat zum Schreibtisch, an dem sie gearbeitet hatte, stellte ihr Glas ab und kam zu ihm zurück. Er trank seinen Whisky aus, da er glaubte, sie wolle ihm das Glas abnehmen, doch sie drückte seinen Arm und küsste ihn auf die Wange. »Schön, dich zu sehen. Brauchst du Hilfe mit dem Computer?«
»Das schaff ich schon«, sagte er und hob das Gerät hoch, nicht gerade stolz darauf, wie bereitwillig er den Fluchtweg nahm, den sie ihm eröffnete, jedoch beruhigte er sich mit dem Gedanken, dass es Arbeit gab und dass die Arbeit Vorrang hatte, was gerade Deborah ganz bestimmt verstehen würde.
St. James' Arbeitszimmer, das so genannte Labor, an das sich Deborahs Dunkelkammer anschloss, war im vierten Stockwerk des Hauses. Oben angekommen, blieb Lynley stehen und sagte:
»Simon, stör ich?«, bevor er über den Treppenabsatz zur offenen Tür ging.
Simon St. James, der an seinem Computer saß, war in das Studium irgendeiner komplizierten Sache vertieft, die einer dreidimensionalen grafischen Darstellung glich. Das Bild veränderte sich, als er auf verschiedene Tasten tippte, und begann sich nach einigen weiteren Anschlägen seitlich um die eigene Achse zu drehen. »So was Komisches«, brummte er, dann wandte er sich der Tür zu. »Tommy! Ich dachte doch, ich hätte vorhin jemanden kommen hören.«
»Deb hat mich zu einem Glas von deinem Lagavulin eingeladen. Sie wollte hören, ob er wirklich so gut ist, wie du sagst.«
»Und?«
»Hervorragend. Darf ich -?«, fragte er mit einer Kopfbewegung zu dem Computer, den er trug.
»Oh, entschuldige«, sagte St. James. »Warte, ich - irgendwo finden wir hier bestimmt einen freien Platz.«
Er rollte seinen Sessel vom Computertisch zurück und schlug mit einem Metalllineal seitlich auf seine Beinschiene, als er aufstehen wollte, und das Scharnier sich nicht bewegte. »Dieses Ding macht nichts als Ärger«, schimpfte er. »Schlimmer als jede Arthritis. Sobald es draußen regnet, funktioniert es nicht mehr richtig. Zeit für eine Generalüberholung, denke ich, oder einen Besuch in Oz.«
Die Sachlichkeit, mit der er sprach, war nicht vorgetäuscht, das wusste Lynley, der selbst weit von solcher Leidenschaftslosigkeit entfernt war. Dreizehn Jahre waren seit dem verhängnisvollen Unfall vergangen, aber noch immer kostete es ihn jedes Mal, wenn er St. James' mühsame Art der Fortbewegung sah, alle Selbstbeherrschung, sich nicht in abgrundtiefer Scham von dem abzuwenden, was er dem Freund angetan hatte.
St. James machte auf dem Arbeitstisch neben der Tür Platz frei, indem er Unterlagen, Akten und wissenschaftliche Zeitschriften auf einer Seite aufeinander stapelte. »Ist mit Helen alles in Ordnung?«, fragte er beiläufig. »Sie sah ziemlich schlecht aus, als sie heute Nachmittag ging. Das heißt, eigentlich hat sie den ganzen Tag schon elend ausgesehen.«
»Heute Morgen ging es ihr gut«, antwortete Lynley und redete sich ein, dass das keine Lüge sei. Übelkeit in der Schwangerschaft war schließlich keine Krankheit im landläufigen Sinn. »Ein bisschen müde war sie vielleicht. Wir waren am Abend bei Web-«
Aber das, erinnerte er sich, war nicht die Geschichte, die seine Frau Deborah und Simon erzählt hatte. Verflixt, warum musste Helen so kreativ sein, wenn es ans Geschichtenerzählen ging!
»Nein, Moment mal. Das war vorgestern Abend, glaube ich. Herrgott noch mal, ich
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