11 - Nie sollst Du vergessen
Haarbürste und die blonden Haare, die in ihren Borsten hingen, und das Schälchen mit den Perlen, die sie manchmal in ihr Haar zu flechten pflegte. Am längsten verweilte er bei dem Foto von Roger, von dem je ein Abzug im Wohnzimmer und in Daniels Zimmer auf dem Nachttisch stand, und eines in der Küche über dem Tisch hing. Roger Edwards, zum damaligen Zeitpunkt siebenundzwanzig Jahre alt, einen Monat zuvor aus Neu-Süd-Wales in England angekommen, seit zwei Tagen Yasmins Geliebter.
Er kam wieder aus dem Schlafzimmer heraus, nickte ihr höflich zu und ging in Daniels Zimmer, wo es ähnlich ablief: Kleiderschrank, Kommode, Foto von Roger. Als Nächstes war das Bad an der Reihe, wo Daniel sofort mit ihm zu schwatzen begann und sagte: »Ich muss nämlich immer die Perücken waschen. Mam besorgt sie für Frauen, die Krebs haben, wissen Sie. Denen fallen fast immer die Haare aus, wenn sie ihre Medizin nehmen. Dann besorgt Mam ihnen neue Haare. Und das Gesicht macht sie ihnen auch.«
»Sie macht ihnen Bärte?«, fragte der Bulle.
Daniel lachte. »Doch nicht mit Haaren, Mann, mit Make-up. Sie schminkt sie. Das kann sie echt gut. Soll ich Ihnen mal zeigen -«
»Dan!«, fuhr Yasmin dazwischen. »Du sollst arbeiten!«
Sofort beugte sich Dan wieder über die Wanne.
Der Bulle kam aus dem Badezimmer, nickte ihr wieder zu und ging weiter in die Küche. Von dort führte eine Tür auf den kleinen Balkon hinaus, wo sie die Wäsche trocknete. Die öffnete er, warf einen Blick hinaus, schloss sie dann sorgfältig wieder und strich mit der Hand - einer großen kräftigen Hand - am Türpfosten hinauf und hinunter, als suchte er nach rauen oder gesplitterten Stellen im Holz. Er öffnete weder Schränke noch Schubladen. Er tat eigentlich überhaupt nichts, außer dass er vor dem Tisch stehen blieb und das Foto betrachtete, das er bereits in allen anderen Zimmern gesehen hatte.
»Und wer ist der Typ?« fragte er.
»Dans Vater. Mein Mann. Er ist tot.«
»Das tut mir Leid.«
»Braucht Ihnen nicht Leid zu tun«, entgegnete sie. »Ich hab ihn getötet. Aber das wissen Sie wahrscheinlich schon. Deswegen sind Sie doch hier, oder? Eines Tages hat man einen Junkie mit einem Messer in der Gurgel gefunden. Ihre Kollegen haben die Daten in ihren Computer eingegeben, und heraus kam wie der Teufel aus der Schachtel Yasmin Edwards.«
»Nein, das wusste ich nicht«, sagte Nkata. »Tut mir trotzdem Leid.«
Seine Stimme klang - ja, wie eigentlich? Sie konnte es nicht definieren, so wenig wie sie den Ausdruck seiner Augen definieren konnte. Und sie spürte schon wieder die Wut in sich aufsteigen, diese Wut, über die sie nicht nachdenken und die sie niemals erklären konnte. Es war die Wut, die sie als junges Mädchen gelernt hatte, stets - ohne Ausnahme - herausgefordert durch einen Mann: Typen, die sie kennen lernte und einen Tag oder eine Woche oder einen Monat lang ganz in Ordnung fand, bis durch das, was sie zu sein vorgaben, hindurchzuschimmern begann, was sie wirklich waren.
»Also, was wollen Sie dann?«, fuhr sie ihn gereizt an. »Warum kommen Sie zu mir? Was stehen Sie draußen rum und quasseln mit meinem Sohn, als hätte er Ihnen was zu erzählen, das Sie interessiert? Wenn Sie glauben, dass ich was verbrochen hab, dann reden Sie endlich Klartext. Wenn nicht, verschwinden Sie. Verstanden? Wenn Sie nicht -«
»Katja Wolff«, sagte er, und das verschlug ihr die Sprache. Was, zum Teufel, hatte er mit Katja zu schaffen. »Bei der Bewährungshilfe wird sie unter dieser Adresse hier geführt. Ist das richtig, wohnt sie hier?«
»Wir haben die Genehmigung«, sagte Yasmin. »Ich bin seit fünf Jahren draußen. Gegen mich liegt nichts vor. Wir haben die Genehmigung.«
»Sie haben ihr Arbeit in einer Wäscherei in der Kennington High Street verschafft«, sagte Winston Nkata. »Da war ich zuerst, weil ich mit ihr reden wollte, aber sie ist heute nicht erschienen. Sie hat sich krankgemeldet. Wegen Grippe. Darum bin ich hierher gekommen.«
Bei Yasmin schrillten die Alarmglocken, aber sie ließ sich nichts anmerken. »Na und?«, sagte sie. »Sie ist wahrscheinlich beim Arzt.«
»Den ganzen Tag?«
»Staatlicher Gesundheitsdienst«, erwiderte sie achselzuckend.
Höflich, wie schon die ganze Zeit über, sagte er: »Das ist das vierte Mal, dass sie sich krank gemeldet hat, Mrs. Edwards. So haben sie's mir jedenfalls in der Wäscherei gesagt. Das vierte Mal in zwölf Wochen. Erfreut sind die darüber nicht, das kann ich Ihnen sagen. Sie haben
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