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11 - Nie sollst Du vergessen

11 - Nie sollst Du vergessen

Titel: 11 - Nie sollst Du vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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anzuketten, sondern rannte mit drei großen Sprüngen die Treppe hinauf und klopfte an die Tür. Als nichts geschah, drückte sie anhaltend auf die Klingel. Immer noch nichts. Seinen Mitsubishi suchend, sah sie zum Platz hinunter. Der Wagen stand nicht weit entfernt vor einem gelben Haus. Gideon war also zu Hause. Komm schon, dachte sie, mach die Tür auf.
    Drinnen begann sein Telefon zu klingeln. Viermal, dann war Schluss. Sie glaubte schon, er wäre zu Hause und wollte nur nicht aufmachen, aber dann verriet ihr eine ferne körperlose Stimme, die sie nicht kannte, dass Gideons Anrufbeantworter sich eingeschaltet hatte und eine Nachricht aufnahm.
    »Ach, verdammt!«, schimpfte sie. Er musste weggegangen sein. Wahrscheinlich wusste er bereits, dass die Presse dabei war, die Geschichte über den Tod seiner Schwester wieder aufzurollen, und hatte beschlossen, eine Weile zu verschwinden. Übel nehmen konnte man es ihm nicht. Die meisten Menschen mussten schlimme Ereignisse nur einmal erleben; er schien die schreckliche Geschichte der Ermordung seiner Schwester ein zweites Mal durchleben zu müssen.
    Sie ging in ihre Wohnung hinunter. Die Post lag auf der Matte. Sie hob sie auf, sperrte die Tür auf und sah im Hineingehen die Briefe durch: die Telefonrechnung, ein Bankauszug, dem zu entnehmen war, dass ihr Konto dringend eine Spritze brauchte, ein Werbeschreiben von irgendeiner Firma, die Alarmanlagen vertrieb, und ein Brief von ihrer Mutter, den Libby am liebsten ungeöffnet weggeworfen hätte, weil er ja doch wieder nur eine Story über die tollen Leistungen ihrer Schwester enthalten würde. Sie riss ihn trotzdem auf, und während sie mit der einen Hand ihren Helm abnahm, schüttelte sie mit der anderen das violettfarbene Blatt Papier aus dem Umschlag.
    »Haben, was man sich wünscht, sein, was man sich erträumt«, stand in schwarzer Blockschrift quer über dem Blatt. Equality Neale, Direktorin der Firma Neale Publicity, der erst kürzlich die Zeitschrift Money ihre Titelgeschichte gewidmet hatte, würde in Boston ein Seminar zum Thema Selbstbehauptung und Erfolg im Geschäftsleben leiten und es danach in Amsterdam anbieten. In einer Handschrift, die wie gestochen wirkte und den Nonnen, die sie das Schreiben gelehrt hatten, alle Ehre gemacht hätte, hatte Mrs. Neale geschrieben: Wäre es nicht schön, wenn ihr beide euch sehen könntet? Ali könnte auf der Rückreise in London Zwischenstopp machen. Wie weit ist Amsterdam von London entfernt?
    Nicht weit genug, dachte Libby und knüllte die Bekanntmachung zusammen. Immerhin bewirkte der Gedanke an Ali und ihre aufreizende Tadellosigkeit, dass Libby den Kühlschrank, den sie in ihrem Frust über Gideons Unerreichbarkeit normalerweise unverzüglich angesteuert hätte, ignorierte. Tugendhaft goss sie sich ein Glas gesundes Mineralwasser ein, statt sich die sechs Käsequesadillas zu genehmigen, die sie am liebsten sofort verschlungen hätte. Während des Trinkens sah sie zum Fenster hinaus. Gleich bei der Mauer, die seinen Garten von dem des Nachbarn abgrenzte, stand der Schuppen, in dem er seine Drachen zu bauen pflegte. Die Tür war angelehnt, ein schmaler Lichtstreifen fiel durch die Öffnung ins Freie.
    Sie stellte das Glas auf den Tisch und lief zur Tür hinaus, sprang die von graugrünen Flechten überzogenen Treppenstufen zum Garten hinauf. »He, Gideon!«, rief sie laut, schon auf dem Weg zum Schuppen. »Bist du da drinnen?«
    Als sie keine Antwort erhielt, blieb sie irritiert stehen. Sie hatte Richard Davies' Granada draußen auf dem Platz nicht gesehen, aber sie hatte auch nicht nach ihm Ausschau gehalten. Vielleicht war der Alte wieder mal zu einem dieser peinlichen Vater-Sohn-Gespräche vorbeigekommen, die er so besonders gut drauf hatte. Und wenn er es geschafft hatte, Gideon hinreichend zu nerven, hatte der sich vielleicht zu Fuß aus dem Staub gemacht, und Richard war in diesem Moment dabei, sich dafür zu rächen, indem er die Drachenwerkstatt seines Sohnes zerlegte. Das sähe ihm ähnlich, dachte Libby, dass er Gid das Einzige im Leben, was nichts mit der blöden Geige zu tun hatte - außer dem Segelfliegen, das Richard natürlich ebenfalls unmöglich fand -, ohne mit der Wimper zu zucken ruinieren würde. Und garantiert würde er hinterher noch eine erstklassige Entschuldigung dafür liefern.
    »Es hat dich von deiner Musik abgehalten, mein Junge.«
    Ha, ha, dachte Libby mit wütender Geringschätzung.
    In ihrer Fantasie fuhr Richard fort: Ich habe es

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