11 - Nie sollst Du vergessen
zuvor als Hobby akzeptiert, Gideon, aber das kann ich jetzt nicht mehr. Wir müssen dafür sorgen, dass du wieder gesund wirst. Wir müssen dafür sorgen, dass du wieder spielen kannst. Du hast Konzert- und Plattenverträge, die du erfüllen musst, dein Publikum wartet auf dich.
Verpiss dich, fuhr Libby Richard Davies an. Er hat ein eigenes Leben. Ein gutes Leben. Warum siehst du nicht zu, dass du dir endlich auch eines schaffst?
Der Gedanke an eine handfeste Auseinandersetzung mit Richard - die Vorstellung, ihm endlich einmal die Meinung sagen zu können, ohne von Gideon daran gehindert zu werden -, gab Libby neuen Mut. Sie lief weiter und stieß die Tür mit einer kurzen Bewegung ganz auf.
Gideon war da, ohne Richard. Er saß an seinem provisorischen Arbeitstisch. Ein Stück Pergamentpapier war vor ihm ausgebreitet, an den Ecken mit Klebeband auf die Platte geheftet, auf das er so angespannt hinunterblickte, als hätte es ihm etwas mitzuteilen, wenn er nur lange und aufmerksam genug horchte.
»Gid?«, sagte Libby. »Hallo. Ich hab das Licht gesehen.«
Es war, als hätte er sie nicht gehört. Sein Blick blieb auf das Papier geheftet.
»Ich hab oben bei dir geklopft«, fuhr Libby fort. »Und geklingelt hab ich auch. Ich hab deinen Wagen draußen stehen sehen, da hab ich mir gedacht, dass du da bist. Und als ich dann hier draußen das Licht entdeckt hab ...« Die Worte erstarben.
Immer noch das Papier fixierend, sagte er: »Du bist früh dran.«
»Ja, ich hab meine Lieferungen heute endlich mal so eingeteilt, dass ich nicht denselben Weg zweimal fahren musste.« Sie war selbst überrascht, wie routiniert sie log. Das musste sie von Rock übernommen haben.
»Es wundert mich, dass dein Mann dich nicht trotzdem zurückgehalten hat.«
»Er hat keine Ahnung davon, und ich werde mich hüten, es ihm zu verraten.« Sie fröstelte. Auf dem Boden neben ihm stand ein kleiner elektrischer Ofen, aber er war nicht eingeschaltet. »Ist dir nicht kalt ohne Pulli oder Jacke?«, fragte sie.
»Ich habe nicht darauf geachtet.«
»Bist du schon lang hier draußen?«
»Ein paar Stunden vielleicht.«
»Und was tust du? Arbeitest du an einem neuen Drachen?«
»Ja. An einem, der höher steigt als alle anderen.«
»Klingt cool.« Sie kam näher und stellte sich hinter ihn, neugierig auf seinen neuesten Entwurf. »Du könntest einen Beruf daraus machen, Gid. Keiner baut solche Drachen wie du. Sie sind echt Wahnsinn. Sie sind -«
Sie brach ab, als ihr Blick auf seinen Entwurf fiel, ein Netzwerk verwischter grauer Bleistiftflecken, wo er zu zeichnen versucht und dann radiert hatte, an manchen Stellen so heftig, dass das Papier durchgerieben war.
Er drehte sich zu ihr um, als sie nicht weitersprach. Er drehte sich so schnell herum, dass ihr keine Zeit blieb, sich zu verstellen.
»Das kann ich anscheinend auch nicht mehr«, sagte er.
»Unsinn«, entgegnete sie. »Du bist nur - blockiert oder so was. Das ist doch was Kreatives, stimmt's? Drachen bauen ist was Kreatives. Das geht allen kreativen Menschen so, dass sie hin und wieder eine Blockade haben.«
Er blickte ihr ins Gesicht und las in ihm offenbar das, was sie nicht gesagt hatte. Er schüttelte den Kopf. Er sah elend aus, so elend wie noch nie, seit er nicht mehr Geige spielen konnte. Er sah noch schlechter aus als am vergangenen Abend, als er ihr vom Tod seiner Mutter berichtet hatte. Sein helles Haar klebte strähnig und glanzlos an seinem Schädel, seine Augen schienen tief eingesunken, seine Lippen waren rissig. Alles viel zu extrem, dachte sie. Er hatte seine Mutter seit Jahren nicht gesehen, er war längst nicht so sehr an sie gebunden gewesen wie an seinen Vater.
Als wüsste er, was ihr durch den Kopf ging, und glaubte, sie korrigieren zu müssen, sagte er: »Ich habe sie gesehen, Libby.«
»Wen?«
»Ich habe sie gesehen und hatte es vergessen.«
»Deine Mutter?«, fragte Libby. »Du hast deine Mutter gesehen?«
»Ich weiß nicht, wie ich das vergessen konnte. Ich weiß nicht, wie es kommt, dass man vergisst, aber ich habe es vergessen.« Er sah Libby an, aber sie hatte den Eindruck, dass er sie gar nicht wahrnahm und nur mit sich selbst sprach.
Er wirkte so voller Selbstverachtung, dass sie hastig versuchte, ihn zu trösten. »Vielleicht hast du gar nicht gewusst, wer sie ist«, sagte sie. »Es war ja immerhin - ich meine, du hattest sie vor Jahren das letzte Mal gesehen.
Du warst damals noch ein Kind. Und du hast keine Fotos von ihr, nicht? Woher solltest
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