11 - Nie sollst Du vergessen
Treppe sehen kann.
Aber als ich durch das Schlüsselloch schaue, das viel mehr Ähnlichkeit mit einem Bullauge hat, sehe ich auf der anderen Seite nicht das, was ich erwarte, sondern das Kinderzimmer meiner Schwester. Und obwohl es im Wohnzimmer sehr hell ist, ist es im Kinderzimmer dämmrig, als wären die Vorhänge wegen des Mittagsschlafs zugezogen.
Ich höre Weinen auf der anderen Seite der Tür. Ich weiß, dass es Sonias Weinen ist, aber ich kann meine Schwester nicht sehen. Und plötzlich ist die Tür keine Tür mehr, sondern ein schwerer Vorhang. Ich schiebe mich hindurch und sehe, dass ich nicht mehr im Haus bin, sondern im Garten dahinter.
Der Garten ist viel größer, als er in Wirklichkeit war. Es gibt mächtige alte Bäume, riesige Farne und einen Wasserfall, der sich in ein fernes Becken ergießt. In der Mitte des Beckens ist der Gartenschuppen, bei dem ich an jenem Abend, an den ich mich wieder erinnert habe, Katja und den unbekannten Mann sah.
Immer noch höre ich Sonia weinen, aber sie weint jetzt sehr jämmerlich, schreit beinahe, und ich weiß, dass ich mich auf die Suche nach ihr begeben soll. Rund um mich herum ist Dickicht, das von Augenblick zu Augenblick dichter und höher zu werden scheint. Mit den Händen Farne und Liliengewächse zur Seite schiebend, versuche ich, mir einen Weg zu bahnen, um das Weinen zu lokalisieren. Gerade als ich mich ganz nahe glaube, ertönt es plötzlich aus einer völlig anderen Richtung, und ich muss aufs Neue zu suchen beginnen.
Ich rufe nach Hilfe - nach meiner Mutter, meinem Vater, Großmutter oder Großvater. Aber keiner kommt. Dann erreiche ich den Rand des Wasserbeckens und sehe, dass zwei Menschen an den Schuppen gelehnt dastehen, ein Mann und eine Frau. Er ist über sie gebeugt und saugt an ihrem Hals, indes Sonia immer noch unablässig weint.
Am Haar erkenne ich die Frau, es ist Libby. Ich stehe wie erstarrt und beobachte die beiden, während der Mann, den ich noch nicht erkennen kann, an ihr saugt. Ich rufe ihnen zu; ich bitte sie, mir bei der Suche nach meiner kleinen Schwester zu helfen. Der Mann hebt den Kopf, und ich erkenne meinen Vater.
Ich bin wütend, fühle mich verraten, bin wie gelähmt. Sonia weint immer weiter.
Dann ist meine Mutter bei mir oder jemand wie meine Mutter, jemand von ihrer Größe und ihrer Gestalt, mit Haar der gleichen Farbe. Diese Person nimmt mich bei der Hand, und mir ist bewusst, dass ich ihr helfen muss, weil Sonia uns braucht, um sich zu beruhigen. Ihr Weinen hat sich jetzt zu zornigem Schreien gesteigert, schrill vor Trotz, als hätte sie einen Wutanfall.
»Keine Angst«, sagt die Mutterperson zu mir. »Sie ist nur hungrig, Schatz.«
Wir finden sie unter einem Farn liegend, zugedeckt von großen Farnwedeln. Die Mutterperson nimmt sie auf den Arm und drückt sie an ihre Brust. »Ich lasse sie saugen. Dann beruhigt sie sich.«
Aber Sonia beruhigt sich nicht, weil sie gar nicht saugen kann. Die Mutterperson gibt ihr nicht die Brust, und selbst wenn sie es täte, würde das nichts helfen. Denn wie ich erst jetzt sehe, trägt meine Schwester eine Maske, die ihr ganzes Gesicht bedeckt. Ich versuche, die Maske zu entfernen, aber es gelingt mir nicht; meine Finger rutschen immer wieder ab. Die Mutterperson bemerkt nicht, dass etwas nicht stimmt, und ich kann sie nicht dazu veranlassen, meine Schwester anzuschauen. Ich versuche weiterhin verzweifelt, die Maske abzureißen, aber es gelingt mir einfach nicht.
Ich bitte die Mutterperson, mir zu helfen, aber das nützt auch nichts. Sie schaut ja nicht einmal zu Sonia hinunter. In höchster Eile kämpfe ich mich zurück zum Becken, um dort Hilfe zu holen, aber an seinem Rand angelangt, verliere ich den Halt und stürze ins Wasser. Unablässig drehe ich mich unter Wasser und bekomme keine Luft.
An dieser Stelle erwachte ich.
Mein Herz raste. Ich konnte seinen hämmernden Schlag im ganzen Körper spüren. Während des Schreibens habe ich mich beruhigt, aber ich glaube nicht, dass ich heute Nacht noch einmal schlafen kann.
Libby ist nicht bei Ihnen?, fragen Sie.
Nein. Sie ist nicht zurückgekommen, seit sie nach unserer Heimkehr von Cresswell-White, als mein Vater vor dem Haus wartete, auf ihrer Maschine davongeprescht ist.
Machen Sie sich Sorgen um sie?
Sollte ich mir Sorgen machen?
Es gibt kein sollte, Gideon.
Bei mir schon, Dr. Rose. Ich sollte mich an mehr erinnern können. Ich sollte Geige spielen können. Ich sollte eine Beziehung zu einer Frau eingehen, etwas
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