11 - Nie sollst Du vergessen
eine Brille trug.
Sie sagte: »Kommt sofort«, und wartete, mit ihrem Bleistift auf ihren Block klopfend, auf meine Bestellung. Ich nahm das Gleiche wie Raphael, obwohl ich nicht hungrig war, und sie ging, um alles zu holen.
Es war keine Essenszeit, darum waren nur wenige Gäste im Lokal, niemand in der Nähe unseres Tischs. Wir saßen am Fenster, und Raphael schaute hinaus, wo ein Mann mit einer Wolldecke kämpfte, die sich im Rad eines Kindersportwagens verheddert hatte, während eine Frau mit einem kleinen Kind auf dem Arm daneben stand und ihm gestikulierend Anweisungen gab.
Ich sagte: »Meinem Gefühl nach war es später Abend, als Sonia ertrank. Aber wenn das stimmt, was hattest du dann um diese Zeit noch bei uns zu tun? Dad hat mir gesagt, dass du da warst.«
»Es war später Nachmittag, als sie ertrank, kurz vor sechs. Ich war geblieben, weil ich noch ein paar Telefonate erledigen wollte.«
»Dad sagte, du hättest an dem Tag wahrscheinlich mit Juilliard telefoniert.«
»Ich wollte es dir gern ermöglichen, die Schule zu besuchen, nachdem man dir das Angebot gemacht hatte. Also bemühte ich mich, für mein Vorhaben Unterstützung zu gewinnen. Für mich war es undenkbar, dass jemand allen Ernstes ein Angebot der Juilliard School ausschlagen würde -«
»Wie hatte man dort überhaupt von mir gehört? Ich hatte ein paar Konzerte gegeben, aber ich kann mich nicht erinnern, mich dort um einen Platz beworben zu haben. Ich weiß nur noch, dass ich die Einladung erhielt.«
»Ich hatte an die Schule geschrieben. Ich hatte ihnen Bandaufnahmen geschickt. Besprechungen. Einen Artikel, den die Radio Times über dich gebracht hatte. Man war interessiert und schickte ein Bewerbungsformular, das ich dann ausfüllte.«
»Wusste Dad davon?«
Wieder trat ihm der Schweiß auf die Stirn. Diesmal griff er zu einer der Papierservietten auf dem Tisch, um ihn abzutupfen.
»Ich wollte deinen Vater vor die vollendete Tatsache stellen, weil ich glaubte, wenn ich die Einladung in der Hand hätte, würde dein Vater sein Einverständnis geben.«
»Aber es war kein Geld da, richtig?«, warf ich finster ein. Und einen Augenblick lang überkam mich die gleiche heiße, an Wut grenzende Enttäuschung wie damals, als der Achtjährige erfahren hatte, dass ein Studium an der Juilliard School of Music ihm verwehrt bleiben würde, weil kein Geld da war, weil bei uns niemals auch nur genug Geld zum Leben da war.
Raphaels nächste Bemerkung war deshalb überraschend.
»Geld war nie das Problem. Das hätten wir schon irgendwie zusammenbekommen. Davon war ich immer überzeugt. Und die Schule hatte ein Stipendium angeboten, das die Studiengebühren gedeckt hätte. Aber dein Vater wollte nichts davon hören, dass du nach New York gehst. Er wollte die Familie nicht auseinander reißen. Ich glaubte, es ginge ihm in erster Linie um eine Trennung von seinen Eltern, und erbot mich, allein mit dir nach New York zu gehen. Dann hätten alle anderen hier in London bleiben können. Aber diese Lösung passte ihm auch nicht.«
»Dann waren es also keine finanziellen Gründe? Und ich dachte immer -«
»Nein. Das Finanzielle spielte letztendlich keine Rolle.«
Wahrscheinlich sah Raphael mir an, dass ich ziemlich verwirrt war und mich betrogen fühlte, denn er sagte hastig: »Dein Vater war der festen Überzeugung, dass du ein Studium an der Juilliard nicht nötig hättest, Gideon. Das ist ein Kompliment für uns beide, denke ich. Er war der Meinung, du bekämst hier in London den Unterricht, den du brauchst, und würdest auch ohne einen Umzug nach New York deinen Weg machen. Und er hat Recht behalten. Sieh dir an, wie weit du es gebracht hast.«
»Ja, sieh es dir nur an«, erwiderte ich ironisch, als Raphael in dieselbe Falle lief, in die ich auch schon gelaufen war, Dr. Rose.
Wirklich weit habe ich es gebracht! Hocke auf dem Fensterbrett in meinem Musikzimmer, wo bereits seit Monaten keine Musik mehr gemacht wird, und kritzle in ein Heft, was mir gerade durch den Kopf geht, und versuche, mich an Einzelheiten zu erinnern, die mein Unterbewusstes lieber dem Vergessen anheim gegeben hätte. Und jetzt entdecke ich, dass einige dieser Erinnerungen, die ich aus den Tiefen meines Gedächtnisses herauskrame - wie zum Beispiel die Einladung der Juilliard School und die Gründe, die mich davon abhielten, ihr zu folgen -, gar nicht den Tatsachen entsprechen! Wenn das so ist, worauf kann ich mich dann eigentlich noch verlassen, Dr. Rose?
Das werden Sie
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