11 - Nie sollst Du vergessen
der Vergangenheit auf und meidest die Gegenwart.«
»Und was meinst du?«
»Ich verlasse mich auf Dr. Rose. Genauer gesagt, ich verlasse mich auf Dr. Rose, den Vater. Was Dr. Rose, die Tochter, angeht, so nehme ich an, dass sie den Fall mit ihm bespricht.« Er warf mir einen nervösen Blick zu, als er das Wort Fall gebrauchte, das mich zu einem psychiatrischen Phänomen reduzierte, von dem zweifellos zu einem späteren Zeitpunkt in einer einschlägigen Fachzeitschrift berichtet werden würde, natürlich ohne Nennung meines Namens, aber doch so detailliert, dass jeder erraten könnte, wer der anonyme Patient war. »Er hat jahrzehntelange Erfahrung mit solchen Geschichten, wie du sie jetzt durchmachst, und darauf wird sie sicherlich bauen.«
»Was für eine Geschichte meinst du denn, dass ich gerade durchmache?«
»Ich weiß, wie sie es genannt hat. Sie hat von Amnesie gesprochen.«
»Das hat Dad dir erzählt?«
»Das ist doch verständlich. Ich bin mehr als jeder andere mit deiner Karriere verbunden.«
»Aber du glaubst nicht an die Amnesie, richtig?«
»Was ich glaube oder nicht, spielt hier keine Rolle, Gideon.«
Er führte mich zum Koalagehege, wo durch ein Gewirr von Ästen, die aus dem Boden aufstiegen, Eukalyptusbäume simuliert wurden, und der Wald, das natürliche Habitat der Bären, auf eine hohe pinkfarbene Mauer aufgemalt war. Ein kleiner Bär schlief einsam und allein in der Gabelung zweier dieser Äste, nicht weit von ihm hing ein Eimer mit Blättern, die seine Nahrung waren. Der Boden des Waldes war aus Beton, es gab keine Büsche, keinerlei Spielzeug oder Abwechslung für den Bären. Er hatte auch keine Gefährten, seine Einsamkeit wurde lediglich von den Menschen durchbrochen, die ihn pfeifend und schreiend zu animieren suchten, weil sie nicht begreifen konnten, dass dieses Geschöpf, das die Natur als Nachttier erschaffen hatte, nicht bereit war, sich auf ihren Lebensrhythmus einzustellen.
Ich registrierte das alles mit einer tiefen Niedergeschlagenheit.
»Mein Gott, warum gehen Menschen überhaupt in zoologische Gärten?«
»Um sich ihrer eigenen Freiheit zu erinnern.«
»Um ihre Überlegenheit auszukosten.«
»Ja, wahrscheinlich auch. Es ist nun einmal so, dass wir Menschen das Heft in der Hand halten.«
»Aha!«, sagte ich. »Ich dachte mir doch gleich, dass hinter diesem Spaziergang in den Regent's Park mehr steckt als ein harmloser Ausflug, um frische Luft zu schnappen. Ich habe noch nie ein Interesse an körperlicher Bewegung und Tieren bei dir erlebt. Also, was hat Dad gesagt? ›Zeig ihm, dass er seinem Schicksal dankbar sein sollte. Zeig ihm, wie grausam das Leben wirklich sein kann!‹«
»Er hätte sicher etwas anderes gewählt, wenn er das im Sinn gehabt hätte. Es gibt weit schlimmere Orte als den Zoo, Gideon.«
»Was war dann der Zweck der Übung? Und erzähl mir jetzt nicht, das mit dem Zoo wäre deine Idee gewesen.«
»Du grübelst zu viel. Das ist ungesund. Und das weiß er.«
Ich lachte ohne Erheiterung. »Als wäre das, was bereits geschehen ist, gesund!«
»Wir wissen nicht, was geschehen ist. Wir können nur vermuten. Und genauso ist es mit dieser Amnesiegeschichte - sie ist reine Vermutung.«
»Also hat er um deine Unterstützung gebeten. Das hätte ich nun wirklich nicht für möglich gehalten - in Anbetracht deiner Beziehung zu ihm.«
Raphael hatte den Blick auf den bedauernswerten kleinen Koala gerichtet, der fest zusammengerollt in dem dürren Geäst schlief, das mit seinem heimatlichen Wäldern keinerlei Ähnlichkeit hatte. »Meine Beziehung zu deinem Vater geht dich nichts an«, entgegnete er mit Entschiedenheit, aber auf seiner Stirn zeigten sich die ersten Schweißtröpfchen. Innerhalb von zwei Minuten würde sein ganzes Gesicht klatschnass sein, und er würde sein Taschentuch herausziehen, um den Schweiß abzuwischen.
»Du warst an dem Abend, als Sonia starb, bei uns im Haus«, sagte ich. »Das hat Dad mir erzählt. Du hast also immer alles gewusst, nicht wahr? Alles, was damals geschehen ist, was zu ihrem Tod geführt hat und was darauf folgte.«
»Komm, trinken wir eine Tasse Tee«, sagte Raphael.
Wir setzten uns in das Restaurant in Barclays Court, obwohl ein Getränkekiosk es auch getan hätte. Er sprach kein Wort, während er zunächst mit pedantischer Genauigkeit die Speisekarte mit ihrem Angebot von gegrilltem Fleisch und Gemüse las und dann eine Kanne Darjeeling und einen Teekuchen bei der Kellnerin bestellte, die nicht mehr jung war und
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