11 - Nie sollst Du vergessen
mit ihr teilen können, ohne zu fürchten, dass ich alles verlieren werde.
Was denn verlieren?
Das, was mich zusammenhält.
Haben Sie es denn nötig, zusammengehalten zu werden, Gideon?
So fühlt es sich jedenfalls an.
23. Oktober
Raphael hat heute wieder seinen täglichen Pflichtbesuch bei mir absolviert, aber anstatt uns ins Musikzimmer zu setzen und auf ein Wunder zu warten, sind wir zum Regent's Park gegangen und haben einen Spaziergang durch den Zoo gemacht. Einer der Elefanten wurde gerade von einem Wärter mit Wasser abgespritzt, und wir blieben stehen und sahen zu, wie das Wasser in Strömen an den Seiten des gewaltigen Tiers herabfloss. Haarbüschel auf dem Rückgrat des Elefanten sträubten sich wie steife Drähte, und das Tier verlagerte sein Gewicht, als suchte es besseren Halt.
»Seltsame Geschöpfe, nicht?«, sagte Raphael. »Man fragt sich, was zu einer solchen Konstruktion geführt hat. Wenn ich so eine biologische Merkwürdigkeit sehe, bedaure ich stets, dass ich nicht mehr über die Evolution weiß. Wie, beispielsweise, hat sich ein Geschöpf wie der Elefant aus dem Urschlamm entwickelt?«
»Er macht sich wahrscheinlich die gleichen Gedanken über uns.«
Mir war gleich bei Raphaels Ankunft aufgefallen, dass er ausgesprochen guter Dinge war. Er war derjenige, der vorschlug, »an die Luft« zu gehen und einen Spaziergang durch den Zoo zu machen, wo die Luft nicht nur von Abgasen geschwängert ist, sondern auch von den Gerüchen nach Urin und Heu. Mich veranlasste das, mir Gedanken darüber zu machen, was vorging, und ich erkannte die Handschrift meines Vaters. »Sieh zu, dass er mal aus dem Haus kommt«, hatte er vermutlich befohlen.
Und wenn mein Vater befiehlt, dann gehorcht Raphael.
Nur darum hat er sich so lange als mein Lehrer gehalten: Er lenkte meine musikalische Entwicklung; mein Vater lenkte den Rest meines Lebens. Und Raphael hat diese Gewaltenteilung von Anfang an akzeptiert.
Erwachsen hätte ich Raphael natürlich ersetzen und mir einen anderen Reisebegleiter - neben meinem Vater, meine ich - und Partner bei den täglichen Übungsstunden suchen können. Aber nach zwei Jahrzehnten der Zusammenarbeit und Partnerschaft war jeder von uns mit dem Lebens- und Arbeitsstil des anderen so innig vertraut, dass es mir nie in den Sinn kam, mich nach jemand anderem umzusehen. Im Übrigen habe ich immer sehr gern mit Raphael zusammen musiziert, als ich dazu noch in der Lage war. Er war - und ist - technisch einfach brillant. Zwar fehlt ihm der innere Funke, die Leidenschaft, die ihn vor langem schon getrieben hätte, seine Hemmungen und Ängste zu überwinden und vor großem Publikum zu spielen, um durch sein Spiel eine Brücke zu den Zuhörern zu schlagen, die die Viererkonstellation Komponist-Musik-Zuhörer-Interpret vollkommen gemacht hätte. Aber das Können und die Liebe waren immer vorhanden, ebenso wie eine bemerkenswerte Fähigkeit, sein technisches Können in eine Form der Kritik und der Unterweisung zu gießen, die dem Novizen gut verständlich und dem etablierten Geiger, dem es darum geht, sein Spiel zu verbessern, von unschätzbarem Wert ist. Darum habe ich nie daran gedacht, mich von Raphael zu trennen - trotz seines Gehorsams meinem Vater gegenüber und seines Abscheus vor ihm.
Ich muss diese gegenseitige Antipathie der beiden immer gespürt haben, obwohl sie nie offen zu Tage trat. Irgendwie kamen sie bei aller gegenseitiger Abneigung miteinander zurecht, und erst jetzt, wo sie sich plötzlich so ungeheuer bemühten, diese beiderseitige Animosität zu verbergen, hatte ich einen Anlass, mich zu fragen, worin ihr Ursprung liegt.
Die logische Antwort konnte nur lauten, in der Konkurrenz um meine Mutter, in den Gefühlen, die Raphael meiner Mutter entgegenbrachte. Aber das erklärte im Grunde nur, warum Raphael meinen Vater nicht ausstehen konnte: Weil der etwas besaß, das Raphael haben wollte. Die Aversion meines Vaters gegen Raphael erklärte es nicht. Da musste noch etwas anderes eine Rolle spielen.
Vielleicht war es Neid auf das, was Raphael Ihnen geben konnte, bieten Sie mir als Antwort an.
Ja, es ist wahr, mein Vater spielte kein Instrument, aber meiner Meinung nach hat der Hass zwischen den beiden eine tiefere, eher atavistische Wurzel.
Als wir das Elefantengehege hinter uns ließen, um zu den Koalas zu gehen, sagte ich zu Raphael: »Dir ist wohl aufgetragen worden, mich aus dem Haus zu lotsen.«
Er bestritt es nicht. »Er ist der Ansicht, du hältst dich zu viel in
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