11 - Nie sollst Du vergessen
mehr, Dan. Überall kriechen sie rum. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.« Sie riss die Bettdecke zurück und beugte sich über den kleinen Bauch. »Bussi, Bussi, Bussi«, rief sie und genoss das ausgelassene helle Lachen ihres Sohnes, das ihr jeden Tag wie neu erschien, obwohl sie nun schon seit Jahren wieder bei ihm war. Sie hatte das Bussikäferspiel erst wieder einführen müssen, als sie aus dem Gefängnis entlassen worden war, und sie hatten beide Unmengen von Küssen nachzuholen gehabt.
Sie zog Daniel hoch, bis er saß, und drückte ihn gegen sein Star Trek -Kopfkissen. Er schnappte ein paarmal nach Luft, hörte auf zu kreischen und blinzelte sie mit seinen braunen Augen voll kindlicher Zufriedenheit an. Ihr wurde innerlich ganz warm, wie immer, wenn er sie so ansah.
»Was möchtest du eigentlich in den Weihnachtsferien tun, Dan?«, sagte sie. »Hast du darüber mal nachgedacht?«
»Disney World!«, juchzte er. »Orlando, in Florida. Zuerst gehen wir ins Magic Kingdom, und danach fahren wir nach Miami Beach, Mam, und da kannst du am Strand liegen und dich sonnen, und ich kann im Meer surfen.«
Sie lächelte. »Nach Disney World willst du? Wo sollen wir denn das Geld dafür hernehmen? Hast du vor, eine Bank auszurauben?«
»Ich hab Geld gespart.«
»Wie viel denn?«
»Ich hab fünfundzwanzig Pfund.«
»Kein schlechter Start, aber das reicht bei weitem nicht.«
»Mam ...« Seine ganze Enttäuschung lag in dem einen Wort.
Es tat ihr immer weh, ihm nach allem, was er in den frühen Jahren seiner Kindheit durchgemacht hatte, einen Wunsch abschlagen zu müssen. Am liebsten hätte sie ihm jeden erfüllt. Aber sie wusste, dass es in diesem Fall keinen Sinn hatte, ihm - oder auch sich selbst - Hoffnungen zu machen; wie sie Daniels Weihnachtsferien verbringen würden, hing nicht allein von seinem und ihrem Willen ab.
»Und was ist mit Katja? Sie könnte nicht mitkommen, Dan. Sie würde hier bleiben und arbeiten müssen.«
»Na und? Warum können wir nicht allein fahren, Mam? Nur du und ich? So wie früher.«
»Weil Katja jetzt zu unserer Familie gehört. Das weißt du doch.«
Er machte ein finsteres Gesicht und wandte sich ab.
»Sie macht jetzt gerade draußen in der Küche dein Frühstück«, sagte Yasmin. »Sie bäckt extra die kleinen Pfannkuchen, die du so gern isst.«
»Ach, soll sie doch tun, was sie will«, brummte Daniel.
»Hey, Danny.« Yasmin beugte sich über ihn. Es war ihr wichtig, dass er verstand. »Katja gehört zu uns. Sie ist meine Partnerin. Du weißt, was das heißt.«
»Das heißt, dass sie immer überall dabei sein muss, die blöde Kuh.«
»Hey!« Sie gab ihm einen leichten Klaps auf die Wange. »Ich mag es nicht, wenn du so redest. Wir könnten auch nicht nach Disney World fahren, wenn's nur um uns beide ginge, Dan. Lass also deine Enttäuschung nicht an Katja aus, Schatz. Ich bin diejenige, die kein Geld hat.«
»Warum hast du mich dann überhaupt gefragt?«, sagte er anklagend. »Wenn du von Anfang an gewusst hast, dass wir doch nicht fahren, warum hast du mich dann gefragt, wohin ich will?«
»Ich habe dich gefragt, was du tun willst, Dan. Du hast daraus gemacht, wohin du fahren willst.«
Damit war ihm der Wind aus den Segeln genommen, und er wusste es, und das Wunderbare war, dass ihr Sohn irgendwie davor bewahrt geblieben war, die Unart der Quengelei und ewiger Widerrede aufzuschnappen, mit der so viele Kinder seines Alters ihren Eltern das Leben schwer machten. Aber er war natürlich dennoch nur ein kleiner Junge, der noch nicht gelernt hatte, mit Enttäuschung umzugehen. Sein Gesicht verfinsterte sich, er verschränkte die Arme und trotzte.
Sie schob ihm die Hand unter das Kinn, um seinen Kopf anzuheben. Er leistete Widerstand. Sie seufzte und sagte: »Eines Tages haben wir bestimmt mehr Geld als heute. Aber du musst Geduld haben, Dan. Ich hab dich lieb. Und Katja hat dich auch lieb.« Sie stand von seinem Bett auf und ging zur Tür. »Komm jetzt, Dan. In spätestens zwanzig Sekunden will ich dich im Bad hören.«
»Aber ich will nach Disney World«, erklärte er eigensinnig.
»Bestimmt nicht halb so sehr, wie ich wünsche, ich könnte mit dir hinfahren.«
Sie schlug mit der Hand leicht an den Türpfosten und ging hinüber ins andere Zimmer, das sie mit Katja teilte. Dort ließ sie sich auf dem Bett nieder und lauschte den morgendlichen Geräuschen in der Wohnung: Sie hörte Daniel aus dem Bett hüpfen und ins Badezimmer hinüberlaufen; sie hörte Katja, die
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