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11 - Nie sollst Du vergessen

11 - Nie sollst Du vergessen

Titel: 11 - Nie sollst Du vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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geklärt werden.«
    »Was denn? Was muss -«
    »Yas, es ist spät.« Katja stand auf und drückte ihre Zigarette in dem Aschenbecher auf dem Couchtisch aus. »Die Arbeit ruft. Ich kann jetzt nicht alles erklären. Die Situation ist zu kompliziert.«
    Yasmin hätte gern gesagt: Und deshalb hat es gestern Abend so lange gedauert, sie zu besprechen, Katja? Weil die Situation - was auch immer für eine Situation das ist - zu kompliziert ist? Aber sie sagte es nicht. Sie schob die Frage vorläufig weg, zu all den anderen Fragen, die sie Katja noch nicht gestellt hatte - zum Beispiel die nach den Gründen für ihr Fernbleiben, wenn sie nicht zur Arbeit ging oder nicht nach Hause kam; zum Beispiel die, wohin sie mit dem Auto fuhr, wenn sie es auslieh, und wozu sie es überhaupt ausleihen musste. Wenn sie und Katja etwas Dauerhaftes miteinander aufbauen wollten - eine Beziehung außerhalb der Gefängnismauern, die nicht allein auf der Angst vor Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit und Depression gründete -, würde sie als Erstes alle Zweifel ausräumen müssen. Alle ihre Fragen entsprangen dem Zweifel, und Zweifel war Gift für eine Beziehung.
    Um darüber nicht weiter nachdenken zu müssen, dachte Yasmin an die erste Zeit im Gefängnis, an die Untersuchungshaft, die Tage auf der Krankenstation, wo man sie aus Sorge, ihre Verzweiflung könnte sie in die geistige Verwirrung treiben, unter ständiger Beobachtung gehalten hatte, an die Demütigung der ersten Leibesvisitation - »Na, dann wollen wir doch auch mal ins Loch schauen, Kleine« - und aller Leibesvisitationen, die folgten, an die endlosen Stunden geisttötender mechanischer Arbeiten wie das Kleben von Briefumschlägen, an Zorn und Wut, die so gewaltig waren, dass sie meinte, sie würden sie auffressen. Und sie dachte an Katja, wie diese sich in den ersten Tagen und während des Prozesses ihr gegenüber verhalten hatte, sie aus der Ferne beobachtet, aber nie ein Wort zu ihr gesagt hatte, bis Yasmin sie eines Tages beim Tee im Speisesaal, wo sie allein saß - wie immer, die Kindsmörderin, das Ungeheuer, eine, die nicht bereute -, gefragt hatte, was sie von ihr wolle.
    »Leg dich bloß nicht mit diesem deutschen Luder an«, hatte man ihr gesagt. »Die wartet nur darauf, jemanden richtig fertig zu machen.«
    Aber Yasmin hatte sie trotzdem angesprochen. Sie hatte sich an Katjas Tisch gesetzt, ihr Tablett hingeknallt und gesagt: »Was willst du von mir, du Schlampe? Was glotzt du mich dauernd an, als wär ich vom anderen Stern? Das nervt, sag ich dir. Ich hab die Nase voll davon. Ist das klar?« Sie hatte die Taffe gespielt. Sie wusste, ohne dass es ihr jemand gesagt hatte, dass man hinter Gefängnismauern nur überleben konnte, wenn man niemals Schwäche zeigte.
    »Man kann so oder so mit der Situation umgehen«, hatte Katja ihr zur Antwort gegeben. »Aber du wirst es hier bestimmt nicht schaffen, wenn du dich nicht unterwirfst.«
    »Mich diesen Schweinen unterwerfen?« Yasmin hatte ihre Tasse so hart aufgesetzt, dass der Tee überschwappte und die Papierserviette mit milchbrauner Brühe durchweichte. »Ich gehör überhaupt nicht hierher. Ich hab nur um mein Leben gekämpft.«
    »Und genau das tust du, wenn du dich unterwirfst. Du kämpfst um dein Leben. Nicht um das Leben hinter Gittern, sondern um das Leben, das draußen auf dich wartet.«
    »Was für ein Leben soll das schon werden? Wenn ich hier rauskomme, kennt mein Kind mich nicht mehr. Hast du überhaupt eine Ahnung, wie das ist?«
    Katja hatte sehr wohl eine Ahnung, auch wenn sie nie von dem Kind sprach, das sie am Tag seiner Geburt aufgegeben hatte. Das war das Wunderbare an Katja, als Yasmin sie mit der Zeit kennen lernte, dass ihr nichts fremd war - nicht der Verlust der Freiheit oder der Verlust eines Kindes, nicht die Erfahrung, den falschen Menschen vertraut zu haben, oder die Erkenntnis, dass man sich nur auf sich selbst verlassen konnte. Auf der Basis dieses umfassenden Verständnisses Katjas hatten sie die ersten vorsichtigen Schritte aufeinander zu gemacht. Und in der Zeit, die sie zusammen verbrachten, entwickelten Katja Wolff - die schon zehn Jahre im Gefängnis war, als Yasmin ihr begegnete - und Yasmin einen Plan, wie sie ihr Leben einrichten würden, wenn sie wieder frei wären.
    Rache hatte nicht zu ihrem Plan gehört. Das Wort Vergeltung war nie über ihre Lippen gekommen. Aber jetzt fragte sich Yasmin, was Katja damals, vor Jahren, gemeint hatte, als sie gesagt hatte: »Die sind mir was schuldig«,

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