11 - Nie sollst Du vergessen
mit einem jener Verschwörerblicke an, die unterstellen, dass zwei Menschen sich stillschweigend über eine bestimmte Sache einig sind, und ich schloss daraus, dass das Museum zum Gedenken an meinen Großvater für immer geschlossen werden wird, wenn die beiden zusammenziehen. Das wird sie meinem Vater natürlich nicht gesagt haben. Solche Direktheit ist nicht Jills Art.
Zu mir sagte sie: »Hoffentlich hast du deine Gummistiefel mit.«
Ich lächelte, ohne etwas zu erwidern, und zog mich ins Großvaterzimmer zurück.
Ich betrete diesen Raum selten. Es flößt mir Unbehagen ein, mich von derart erdrückenden Beweisen der Verehrung meines Vaters für seinen Vater umgeben zu sehen. Ich finde die Inbrunst, mit der mein Vater die Erinnerung an seinen Vater pflegt, ehrlich gesagt ziemlich fehl am Platz. Gewiss, mein Großvater hat Schweres durchgemacht - Kriegsgefangenschaft, schreckliche Entbehrungen, Zwangsarbeit, Folter - und unter Bedingungen leben müssen, die eher einem Tier als einem Menschen angemessen gewesen wären, aber sowohl vor dem Krieg als auch danach hat er meinen Vater mit Hohn und Spott tyrannisiert, und ich verstehe bis heute nicht, warum mein Vater am Gedenken an ihn festhält, anstatt ihn endlich ein für allemal zu begraben. Denn schließlich war mein Großvater schuld an diesem Leben, zu dem wir damals am Kensington Square gezwungen waren. Mein Vater musste schuften wie ein Sklave, weil mein Großvater nicht fähig war, sich und seine Frau zu ernähren und den Lebensstandard aufrechtzuerhalten, den die beiden gewöhnt waren. Meine Mutter musste nur deshalb arbeiten gehen - obwohl sie ein behindertes Kind hatte! -, weil das Einkommen meines Vaters nicht ausreichte, um das Leben seiner Eltern, den Unterhalt des Hauses, meine Musikstunden und meinen Privatunterricht zu finanzieren; mein Studium der Musik wurde vor allem deshalb gefördert - ohne Rücksicht auf die finanziellen Opfer -, weil mein Großvater es so wollte ... Und als reichte das alles nicht, musste mein Vater sich ständig die höhnischen Beschimpfungen meines Großvaters anhören, die mir noch heute in den Ohren dröhnen: Krüppel, Dick, du produzierst nichts als Krüppel.
Ich gönnte daher der Devotionalienausstellung keinen Blick, als ich ins Zimmer kam, sondern ging direkt zu dem Schreibtisch, aus dem mein Vater das Foto von Katja Wolff und Sonia geholt hatte. Ich zog die oberste Schublade auf, die randvoll mit Papieren und Ordnern war.
Was suchten Sie denn?, fragen Sie mich.
Irgendetwas, das mir Klarheit über die Geschehnisse geben würde. Denn für mich ist nichts klar, Dr. Rose, und mit jeder neuen Tatsache, die ich ausgrabe, wird alles nur noch unklarer.
Mir ist etwas eingefallen, das meine Eltern und Katja Wolff betrifft. Die Erinnerung wurde durch mein Gespräch mit Sarah-Jane Beckett ausgelöst und durch den zweiten Besuch im Pressearchiv, zu dem mich dieses Gespräch veranlasste. Ich entdeckte unter den vielen Zeitungsausschnitten eine bildliche Darstellung, Dr. Rose, so etwas wie eine Karte aller zum Zeitpunkt des Todes bereits verheilten Verletzungen, die Sonia im Lauf der Zeit erlitten hatte. Es waren viele: unter anderem eine Schlüsselbeinfraktur, eine Hüftluxation, ein gebrochener Zeigefinger, der wieder geheilt war, und an einem Handgelenk waren Spuren einer Fissur zu erkennen. Mir wurde übel, als ich das alles las, und eine Frage stellte sich mir klar und deutlich: Wie hatte Katja Wolff - oder irgendeine andere Person - meiner Schwester derartige Verletzungen beibringen können, ohne dass jemand aus der Familie etwas davon merkte?
Die Zeitungen berichteten, dass der sachverständige Zeuge der Anklage - ein Mediziner, der auf dem traurigen Gebiet der Kindesmisshandlung Spezialist war - im Kreuzverhör einräumte, dass es bei Kleinkindern nicht nur leichter zu Knochenbrüchen kommt als bei Erwachsenen, sondern dass solche Frakturen auch leichter verheilen, sogar ohne das Zutun eines Arztes. Er räumte ferner ein, dass er, auf dem Gebiet der Knochenanomalien bei Down-Syndrom-Patienten nicht bewandert, die Möglichkeit nicht ausschließen könne, dass die Knochenbrüche und Luxationen, die Sonia davongetragen hatte, in direktem Zusammenhang mit ihrer Krankheit standen. Erneut von der Anklage befragt, trug er jedoch mit allem Nachdruck das entscheidende Argument seiner Aussage vor: Ein Kind, dessen Körper ein Trauma widerfährt, wird auf dieses Trauma reagieren. Wenn so eine Reaktion unbemerkt und so ein Trauma
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