11 - Nie sollst Du vergessen
Tobsuchtsanfälle des verrückten alten Mannes, Richard Davies' zweites Versagen -«
»Sein zweites Versagen?«
»Es war sein zweites behindertes Kind. Er hatte schon eines. Aus einer früheren Ehe. Und als dieses zweite zur Welt kam ... Es war für alle entsetzlich, aber Eugenie wollte nicht begreifen, dass es ganz normal war, zunächst entsetzt und zornig zu sein, Gott zu verfluchen und sich so zu verhalten, wie man sich eben verhalten muss, um mit einem Schicksalsschlag fertig zu werden. Stattdessen hörte sie auf ihren fürchterlichen Vater: ›Gott spricht direkt zu uns. Es gibt kein Geheimnis in seiner Botschaft. Erforsche deine Seele und dein Gewissen, um in ihnen Gottes Handschrift zu lesen, Eugenie.‹ Das hat er ihr geschrieben. Ist das nicht Wahnsinn? Das war sein Segen und sein Trost zur Geburt dieses bedauernswerten Kindes. Und kein Mensch konnte ihr die Schuldgefühle und den Selbsthass ausreden. Die Nonne war auch keine Hilfe. Die sprach von Gottes Willen, als wäre die ganze Situation vorbestimmt. Eugenie müsse das Kind annehmen, ohne aufzubegehren. Sie dürfe Schmerz und Trauer in angemessener Weise empfinden, aber dann müsse sie sie hinter sich lassen und sich wieder dem Leben zuwenden. Und als das Kind dann starb - und wie es starb ... Ich vermute, es hatte Augenblicke gegeben, in denen Eugenie sich sagte, lieber soll sie sterben, als so leben zu müssen, mit Ärzten und Operationen, Atemnot und Herzversagen, Magenproblemen, Schwerhörigkeit, kaum fähig, zu essen und zu verdauen - da soll sie doch lieber sterben. Und dann starb sie tatsächlich. Es war, als hätte jemand ihren Wunsch erhört, der in Wirklichkeit gar kein Wunsch war, sondern nur Ausdruck einer momentanen Hoffnungslosigkeit. Was hätte Eugenie da anderes empfinden können als Schuldgefühle? Und wie anders hätte sie büßen sollen als durch Selbstbestrafung?«
»Bis Major Wiley auf der Bildfläche erschien«, bemerkte Lynley.
»Vermutlich, ja.« Robsons Stimme klang dumpf. »Wiley bedeutete für sie einen Neuanfang. So jedenfalls hat sie es ihren eigenen Worten zufolge gesehen.«
»Und darüber haben Sie mit ihr gestritten.«
»Ich wollte mich ja entschuldigen«, sagte Robson. »Ich wollte unbedingt mit ihr Frieden schließen. Wir waren jahrelang befreundet gewesen, und ich konnte diese Freundschaft nicht vergessen, nur wegen Wiley. Das wollte ich ihr sagen. Das war alles.«
Lynley dachte an das, was er von Gideon und Richard Davies gehört hatte. »Sie hatte den Kontakt zur Familie vor langer Zeit abgebrochen, aber den zu Ihnen hat sie gehalten. Hatten Sie mal eine Liebesbeziehung mit Mrs. Davies, Mr. Robson?«
Tiefe Röte stieg Robson ins Gesicht, eine hässliche, flammende Röte, die auf seiner von der Sonne geschädigten Haut fleckig wirkte. »Wir haben uns zweimal im Monat getroffen«, sagte er nur.
»Wo?«
»In London oder auf dem Land. Wo immer sie es wünschte. Sie Nachricht von Gideon, und ich lieferte sie ihr. Das war alles, was mich mit Eugenie Davies verband.«
Die Pubs und Hotels in ihrem Terminkalender, dachte Lynley. Zweimal im Monat. Aber das ergab keinen Sinn. Ihre Treffen mit Robson entsprachen nicht dem Muster, nach dem sie ihr Leben gestaltet hatte. Wenn sie sich für die Sünde der menschlichen Verzweiflung hatte bestrafen wollen, für den heimlichen Wunsch - der ihr auf so entsetzliche Weise erfüllt worden war -, von den Mühen und Sorgen um ein behindertes Kind erlöst zu werden, warum hatte sie sich dann gestattet, Informationen über ihren Sohn einzuholen, durch die sie vielleicht getröstet und nicht allen Kontakts beraubt werden würde? Hätte sie sich das nicht auch verweigern müssen?
Irgendwo fehlte da ein Glied in der Kette. Und sein Instinkt sagte Lynley, dass Raphael Robson genau wusste, was es war.
»Zum Teil kann ich Mrs. Davies' Verhalten verstehen, Mr. Robson«, erklärte er, »aber manches finde ich verwirrend. Warum, zum Beispiel, hat sie den Kontakt zu ihrer Familie abgebrochen, jedoch mit Ihnen Verbindung gehalten?«
»Wie ich schon sagte: Das war ihre Art, sich zu bestrafen.«
»Für etwas, das sie gedacht hatte, ohne je im Sinne dieser Gedanken gehandelt zu haben?«
Es hätte Raphael Robson eigentlich ein Leichtes sein müssen, diese einfache Frage zu beantworten. Ja oder nein. Er hatte Eugenie Davies immerhin Jahre gekannt und hatte sich regelmäßig mit ihr getroffen. Aber er antwortete nicht, sondern nahm einen Hobel, der mit anderen Werkzeugen auf dem Arbeitstisch
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