Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
11 - Nie sollst Du vergessen

11 - Nie sollst Du vergessen

Titel: 11 - Nie sollst Du vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
Vom Netzwerk:
unbehandelt bleiben, so liegt dem schwere Pflichtverletzung zugrunde.
    Und immer noch sagte Katja Wolff kein Wort. Als sich ihr die Gelegenheit bot, aufzustehen und sich zu verteidigen - sogar über Sonias Zustand zu sprechen, die Operationen und all die krankheitsbedingten Probleme, die aus ihr ein so schwieriges Kind machten, das beinahe ständig quengelte und weinte -, blieb Katja Wolff stumm, während der Ankläger ihre »herzlose Gleichgültigkeit dem Leiden eines Kindes gegenüber« und ihren »rücksichtslosen Egoismus« anprangerte und von der »Feindschaft« sprach, die »zwischen der Deutschen und ihren Arbeitgebern ausbrach«.
    Das war die Stelle, an der ich mich plötzlich erinnerte, Dr. Rose.
    Wir sitzen beim Frühstück in der Küche, nicht im Esszimmer. Nur wir vier: mein Vater, meine Mutter, Sonia und ich. Ich mache Spielchen mit meinem Weetabix, stapele Bananenstücke darauf wie Ladegut auf einen Lastkahn, obwohl mir gerade gesagt worden war, ich solle essen und nicht spielen. Sonia sitzt in ihrem Babystühlchen, und Mutter füttert sie.
    Mutter sagt: »Wir können das nicht länger hinnehmen, Richard«, und ich hebe erschrocken den Kopf von meinem Weetabix-Schiffchen. Ich denke, dass sie böse ist, weil ich immer noch nicht esse, und mich gleich ausschimpfen wird. Aber Mutter fährt fort:
    »Sie war wieder bis halb zwei weg. Wenn sie sich nicht an die vereinbarten Zeiten halten kann -«
    »Sie muss ab und zu mal einen Abend frei haben«, sagt Vater.
    »Aber dann nicht auch noch den nächsten Morgen. Wir hatten eine klare Vereinbarung, Richard.«
    Dem entnehme ich, dass Katja eigentlich mit uns beim Frühstück sitzen und Sonia füttern müsste. Aber sie ist nicht aus dem Bett gekommen und hat sich nicht um meine Schwester gekümmert. Darum hat Mutter ihre Arbeit übernommen.
    »Wir bezahlen sie dafür, dass sie sich um Sonia kümmert«, sagt Mutter, »nicht dafür, dass sie zum Tanzen oder ins Kino geht oder vor dem Fernseher sitzt. Und ganz bestimmt nicht dafür, dass sie unter unserem Dach ihr Liebesleben pflegt.«
    Das war es, was mir wieder einfiel, Dr. Rose, diese Bemerkung über Katjas Liebesleben. Und ich weiß jetzt auch wieder, wie das Gespräch zwischen meinen Eltern weiterging.
    »Sie interessiert sich für niemanden in diesem Haus, Eugenie.«
    »Du erwartest doch hoffentlich nicht, dass ich dir das glaube.«
    Ich schaue sie an, erst Vater, dann Mutter, und spüre, dass etwas in der Luft liegt, was ich nicht fassen kann, vielleicht Unbehagen oder Verlegenheit. Mittenhinein in dieses Gespräch platzt Katja mit fliegenden Haaren und tausend Entschuldigungen, weil sie verschlafen hat.
    »Ich bitte, lassen Sie mich die Kleine füttern«, sagt sie in ihrem ungeschickten Englisch, das vermutlich noch holpriger wird, wenn sie unter Stress steht.
    Meine Mutter sieht mich an und sagt: »Gideon, würdest du mit deinem Müsli bitte ins Esszimmer gehen?«
    Ich gehorche, weil ich die Spannung in der Küche wahrnehme. Aber gleich hinter der Tür bleibe ich stehen, um zu lauschen, und höre meine Mutter sagen: »Muss ich Sie schon wieder an Ihre Pflichten erinnern, Katja?«
    »Ich bitte, lassen Sie mich die Kleine füttern«, erwidert Katja darauf klar und bestimmt.
    Es ist die Stimme einer Person, die vor ihrem Arbeitgeber keine Angst hat, das weiß ich jetzt, Dr. Rose. Und das wiederum legt doch nahe, dass Katja aus gutem Grund keine Angst hatte.
    Ich suchte also, wie gesagt, die Wohnung meines Vaters auf. Ich begrüßte Jill, wie es sich gehört, ignorierte Urkunden, Schaukästen und Truhen voll großväterlicher Andenken und ging schnurstracks zum Schreibtisch meines Großvaters, den mein Vater seit Jahren benutzt.
    Ich suchte nach irgendetwas, was die Verbindung zwischen Katja und dem Mann, der sie geschwängert hatte, bestätigen würde. Ich hatte nämlich endlich begriffen, dass Katja Wolff damals nur aus einem Grund so beharrlich geschwiegen haben kann: um jemanden zu schützen. Und diese Person muss mein Vater sein, der ihr Foto mehr als zwanzig Jahre lang aufgehoben hat.

1. November, 16 Uhr
    Ich kam nicht weit bei meiner Suche.
    In der Schublade, die ich aufzog, fand ich eine Akte mit Korrespondenz. Unter den Briefen - die meisten hatten irgendwie mit meiner beruflichen Laufbahn zu tun - war einer von einer Rechtsanwältin mit einer Adresse im Norden Londons. Ihre Mandantin Katja Veronika Wolff habe sie, die Rechtsanwältin Harriet Lewis, beauftragt, sich mit Richard Davies bezüglich der ihr

Weitere Kostenlose Bücher