11 - Nie sollst Du vergessen
geschuldeten Gelder in Verbindung zu setzen. Da die Bewährungsauflagen ihr verböten, persönlich mit der Familie Davies Kontakt aufzunehmen, bediene sich Miss Wolff dieses Wegs über die Anwältin, um die oben erwähnte Angelegenheit zu regeln. Mr. Davies möge doch so freundlich sein, Miss Lewis möglichst umgehend in ihrer Kanzlei anzurufen, damit diese Angelegenheit so rasch wie möglich und zur beiderseitigen Zufriedenheit geklärt werden könne. Miss Lewis verbleibe mit vorzüglicher Hochachtung undsoweiter undsofort.
Der Brief war keine zwei Monate alt. Er war klar in der Sprache und schien mir nicht jene Art versteckter Drohung zu enthalten, die man von einem Anwalt erwartet, der bereits an eine gerichtliche Auseinandersetzung denkt. Das Schreiben war direkt, freundlich und professionell. Und löste prompt eine Frage aus: Warum?
Während ich noch über mögliche Antworten nachdachte, kam mein Vater zurück. Ich hörte ihn die Wohnung betreten. Ich hörte seine und Jills Stimmen aus der Küche. Und wenig später hörte ich ihn durch den Flur zum Großvaterzimmer kommen.
Als er die Tür öffnete, saß ich immer noch vor dem Schreibtisch, die Korrespondenzakte aufgeschlagen vor mir auf dem Boden, den Brief von Harriet Lewis in der Hand. Ich bemühte mich nicht, irgendwie zu vertuschen, dass ich die Sachen meines Vaters durchgesehen hatte, und als er mit einem scharfen »Gideon, was tust du da?« durch das Zimmer auf mich zu kam, reichte ich ihm zur Antwort den Brief und fragte: »Was hat das zu bedeuten, Dad?«
Er überflog das Schreiben. Dann legte er es in die Akte zurück und diese wieder in die Schreibtischschublade.
»Sie wollte für die Zeit bezahlt werden, während der sie vor dem Prozess in Untersuchungshaft saß«, sagte er schließlich. »Der erste Monat Untersuchungshaft fiel noch in die Kündigungsfrist, die wir ihr eingeräumt hatten, und sie wollte das Geld für diesen Monat haben, und zwar mit Zinsen.«
»Nach so vielen Jahren?«
»Angebrachter wäre vielleicht die Frage: Nachdem sie Sonia ermordet hatte?« Er stieß die Schublade zu.
»Sie war sich ihrer Stellung bei uns sehr sicher, nicht wahr? Sie hat nie im Leben damit gerechnet, entlassen zu werden, richtig?«
»Was redest du da für einen Unsinn?«
»Hast du den Brief eigentlich beantwortet? Hast du die Anwältin angerufen?«
»Ich habe nicht die geringste Absicht, diese Zeit wieder aufleben zu lassen, Gideon.«
Ich wies mit einer Kopfbewegung auf die Schublade, in der der Brief lag. »Da möchte dir aber anscheinend jemand einen Strich durch die Rechnung machen. Und nicht nur das. Diese Person hat offenbar trotz allem, was sie dir angeblich angetan hat, überhaupt keine Skrupel, wieder in dein Leben zu treten, wenn auch über ihre Anwältin. Ich verstehe nicht, warum sie das tut, es sei denn, zwischen euch bestand mehr als ein Arbeitsverhältnis. Oder findest du nicht, dass ein Brief wie dieser ein Selbstvertrauen ausdrückt, das jemand in Katja Wolffs Lage sich dir gegenüber eigentlich nicht erlauben dürfte?«
»Worauf, zum Teufel, willst du hinaus?«
»Ich habe mich wieder erinnert, wie meine Mutter mit dir über Katja gesprochen hat. Mir ist wieder eingefallen, was für einen Verdacht sie hatte.«
»Nichts als Unsinn.«
»Sarah-Jane Beckett behauptet, James Pitchford hätte sich nicht für Katja interessiert. Sie behauptet, er hätte generell kein Interesse an Frauen gehabt. Damit ist er raus, Dad, und es bleiben du und Großvater, die beiden einzigen anderen Männer im Haus. Oder Raphael vielleicht, obwohl ich denke, du weißt so gut wie ich, wem Raphaels Zuneigung wirklich galt.«
»Was soll das heißen?«
»Sarah-Jane hat mir erzählt, dass Großvater ein Faible für Katja hatte und sich immer in ihrer Nähe aufhielt, wenn es ging. Aber irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass es bei Großvater zu mehr gereicht hat als zu Schwärmerei und ein bisschen Tätscheln. Und damit bleibst nur du.«
»Sarah-Jane Beckett war eine eifersüchtige Gans«, entgegnete mein Vater. »Sie hat James Pitchford von dem Tag an angepeilt, als er das erste Mal zu uns ins Haus kam. Dem Kerl brauchte nur eine einzige Silbe von den Lippen zu tropfen, und sie bildete sich ein, er wäre ihr Märchenprinz. Sie war eine Streberin, die unbedingt Karriere machen wollte, Gideon, und bevor Katja auf der Bildfläche erschien, gab es kein Hindernis auf dem Weg zu den gesellschaftlichen Höhen, die dieser lächerliche Pitchford für sie
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