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11 - Nie sollst Du vergessen

11 - Nie sollst Du vergessen

Titel: 11 - Nie sollst Du vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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habe ich ja schon gesprochen, nicht wahr? Von meiner Nervosität. Merkwürdig, ich kann mich nicht erinnern, nervös gewesen zu sein, als das eigentlich völlig normal gewesen wäre: Bei meinem ersten öffentlichen Konzert, sechs Jahre alt war ich damals, oder bei den nachfolgenden Auftritten als Siebenjähriger, oder als ich Perlman vorspielte, als ich Menuhin traf ... Was hatte ich damals, was ich heute nicht mehr habe? Wieso fiel es mir so leicht, die Dinge ganz einfach so zu nehmen, wie sie kamen? Irgendwann habe ich dieses naive Vertrauen verloren.
    Dieser Abend also, an dem ich mich auf dem Weg zur Wigmore Hall befinde, unterscheidet sich nicht von den vielen anderen Abenden, die ich erlebt habe, und ich erwarte, dass die Nervosität vor dem Konzert vorbeigehen wird wie immer, sobald ich die Guarneri und den Bogen hebe.
    Im Gehen vergegenwärtige ich mir noch einmal die Musik, spiele sie im Kopf durch, wie das meine Gewohnheit ist. Bei keiner Probe ist es mir gelungen, das Stück makellos zu spielen - ich habe es noch nie perfekt gespielt -, aber ich sage mir, dass das Körpergedächtnis mir über die Passagen hinweg helfen wird, die mir Schwierigkeiten gemacht haben.
    Bestimmte Passagen?, fragen Sie. Jedes Mal dieselben?
    Nein. Nein, das ist es ja, was beim Erzherzog-Trio immer schon so seltsam war. Ich weiß nie, an welcher Stelle ich stolpern werde. Es ist, als ginge ich über ein Minenfeld, und ganz gleich, wie langsam und vorsichtig ich mich über das gefährliche Terrain bewege, immer schaffe ich es, auf eine Mine zu treten.
    Ich gehe also die Straße hinunter, nehme beiläufig das Lärmen der Leute in einem Pub wahr, an dem ich vorüberkomme, und bin in Gedanken bei meiner Musik. Ich suche sogar die Töne, obwohl ich die Guarneri in ihrem Kasten natürlich bei mir habe, und indem ich das tue, legt sich meine Nervosität ein wenig, was ich irrtümlich als Zeichen dafür nehme, dass alles gut gehen wird.
    Ich bin zwanzig Minuten zu früh da. Kurz bevor ich auf dem Weg zum Künstlereingang hinter der Konzerthalle um die Ecke biege, sehe ich vor mir das Portal zur Halle, dessen Glasdach den Bürgersteig überspannt. Um diese Zeit sind dort nur Passanten auf dem Heimweg von der Arbeit zu sehen. Ich gehe die ersten zehn Takte des Allegro durch. Ich sage mir, wie schön und einfach es doch ist, mit zwei Freunden wie Beth und Sherill zu musizieren. Ich habe nicht die leiseste Vorahnung, was in diesen neunzig Minuten, die von meiner Karriere als Geiger noch übrig sind, geschehen wird. Ich bin, könnte man sagen, das unschuldige Lamm auf dem Weg zur Schlachtbank, das die Gefahr nicht wittert und den Geruch des Bluts in der Luft nicht wahrnimmt.
    All das erinnerte ich, als ich mich mit meinem Vater auf dem Weg zum Konzerthaus befand. Aber meine Beklommenheit hatte nichts wirklich Unmittelbares, weil ich schon wusste, wie sich die kommenden Minuten gestalten würden.
    Wie an jenem anderen Abend bogen wir in die Welbeck Street ein. Seit wir aus der Tiefgarage herausgekommen waren, hatten wir kein Wort miteinander gesprochen. Ich legte das Schweigen meines Vaters als ein Zeichen grimmiger Entschlossenheit aus. Er sah in meinem wahrscheinlich Zustimmung zu seinem Plan, sicher nicht Resignation angesichts der Gewissheit des Ausgangs dieses Unternehmens.
    Am Welbeck Way bogen wir noch einmal ab und gingen auf die zweiflügelige rote Tür zu, über der in ein steinernes Giebelfeld das Wort ›Künstlereingang‹ gemeißelt war. Mein Vater, sagte ich mir, hatte seinen Plan nicht richtig durchdacht. Vorn im Vestibül an den Kartenschaltern waren wahrscheinlich Leute, aber der Künstlereingang würde um diese Tageszeit sicher geschlossen sein, und es würde auch niemand in der Nähe sein, um uns zu öffnen, wenn wir klopften. Wenn also mein Vater mich dazu zwingen wollte, den Abend meines Scheiterns noch einmal zu durchleben, dann hatte er die Sache falsch angefangen, und der Erfolg würde ihm auf jeden Fall versagt bleiben.
    Gerade wollte ich ihn darauf aufmerksam machen, da konnte ich plötzlich nicht mehr weiter, Dr. Rose. Erst stockte ich, dann erstarrte ich, und nichts auf der Welt hätte mich dazu bewegen können, nur einen Schritt weiter zu gehen.
    Mein Vater nahm mich beim Arm und sagte: »Davonlaufen hilft gar nichts, Gideon.«
    Er glaubte natürlich, ich hätte Angst und wäre in meiner Angst nicht bereit, mich dem Risiko auszusetzen, das vermeintlich die Musik für mich repräsentierte. Aber nicht die Angst

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