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11 - Nie sollst Du vergessen

11 - Nie sollst Du vergessen

Titel: 11 - Nie sollst Du vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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holen.
    Als Pitchley dem aggressiv wirkenden Burschen den Schein gab, schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass der Typ leicht sein jüngster Halbbruder Paul sein könnte. Er hatte den kleinen Paulie seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Wäre das nicht ein Witz, wenn er dieses Erpressergeld seinem eigenen Bruder übergäbe, ohne dass einer den anderen erkannte? Aber mittlerweile hätte er vermutlich keines seiner Geschwister mehr erkannt. Es war gut möglich, dass es inzwischen mehr geworden waren als die fünf, die er gehabt hatte, als er damals abgehauen war.
    Er ging zwischen den Wohnsilos hindurch: eine verdorrte Rasenfläche, mit Kreide aufgemalte Himmel-und-Hölle-Quadrate auf unebenem Asphalt, ein Fußball ohne Luft mit einem Messerschlitz in der Haut, zwei umgekippte Einkaufswagen, von denen jemand die Räder entfernt hatte. Drei kleine Mädchen versuchten, auf einem der betonierten Fußwege zu skaten und mussten ständig, noch ehe sie richtig in Fahrt gekommen waren, vor Rissen oder Schlaglöchern abbremsen.
    Als Pitchley den Aufzug des Hochhauses erreichte, stellte er fest, dass er außer Betrieb war. Das Schild, in Blockschrift beschrieben, hing an der uralten Chromtür, die längst von den Spraykünstlern des Hauses üppig dekoriert worden war.
    Pitchley begann, die sieben Stockwerke hinaufzulaufen. Sie musste ja unbedingt »'n bisschen Aussicht« haben, wie sie es zu formulieren pflegte. Es war verständlich, da sie den ganzen Tag nichts anderes tat, als in dem uralten, durchhängenden Sessel zu sitzen, der schon seit Ewigkeiten neben dem Fenster stand, und zu rauchen, zu trinken und auf den Fernseher zu glotzen.
    Im zweiten Stock ging Pitchley die Luft aus. Er musste auf dem Treppenabsatz Rast machen und tief die nach Urin stinkende Luft einatmen, bevor er weiter gehen konnte. In der fünften Etage ruhte er sich noch einmal aus. Als er in der siebten ankam, war er völlig verschwitzt.
    Auf dem Weg zur Wohnungstür rieb er sich den Nacken trocken. Er zweifelte keinen Augenblick, dass sie da sein würde. Jen Pytches würde ihren Hintern höchstens in Bewegung setzten, wenn das Haus in Flammen stand. Und auch nur mit Widerwillen und besorgt, ihre Lieblingssendung im Fernsehen ja nicht zu versäumen.
    Er klopfte. Geplapper schallte ihm aus der Wohnung entgegen, Fernsehstimmen, nach denen man die Tageszeit festsetzen konnte. Morgens Talkshows, am Nachmittag war es Billard - Gott allein wusste, warum -, und der Abend gehörte den Seifenopern.
    Auf sein Klopfen hin rührte sich nichts. Er klopfte noch einmal, lauter, und rief: »Mama?« Als er versuchsweise den Knauf drehte, stellte er fest, dass die Tür nicht abgeschlossen war. Er öffnete sie einen Spalt und rief noch einmal: »Mama!«
    »Was ist denn?«, fragte sie. »Bist du das, Paulie? Willst du mir vielleicht erzählen, du wärst schon bei der Arbeitsvermittlung gewesen? Glaub ja nicht, du kannst mich verarschen, Kleiner. Ich bin doch nicht von gestern.« Sie hustete, röchelnd und verschleimt, und Pitchley drückte mit den Fingerspitzen die Tür nach innen auf.
    Er betrat die Wohnung und ging zu seiner Mutter, die er vor fünfundzwanzig Jahren das letzte Mal gesehen hatte.
    »Na, so was«, sagte sie.
    Sie saß am Fenster, genau wie er erwartet hatte, aber sie war nicht mehr die Frau, die er aus seiner Kindheit in Erinnerung hatte. Fünfundzwanzig Jahre Trägheit, aus der sie sich höchstens gezwungenermaßen hin und wieder herausgerissen hatte, hatten aus seiner Mutter eine Frau wie einen Berg gemacht, die Massen in eine Stretchhose gepresst, über der sie ein Hemd von Fallschirmausmaßen trug. Wäre er ihr auf der Straße begegnet, er hätte sie nicht erkannt. Er hätte sie auch jetzt nicht erkannt, wenn sie nicht gesagt hätte: »Jim, Junge, das is' aber 'ne Überraschung.«
    Er sagte: »Hallo, Mama«, und sah sich in der Wohnung um. Alles war wie früher. Da war das U-förmige blaue Sofa, da waren die Lampen mit den verbeulten Schirmen, und an der Wand hingen dieselben Fotos: eines von jedem kleinen Pytches-Sprössling auf dem Schoß des jeweiligen leiblichen Vaters, den Jen für diese Gelegenheit eigens herbeizitiert hatte. O Gott, bei dem Anblick kehrten schlagartig die Erinnerungen zurück an dieses alberne Theater, wenn die Kinder sich wie die Orgelpfeifen aufstellen mussten und Jen, auf die Bilder zeigend, sagte: »Das ist dein Dad, Jim, er hieß Trev. Aber ich hab ihn immer nur meinen kleinen Zuckerjungen genannt.« Und:

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