11 - Nie sollst Du vergessen
Auftritt nicht zu verderben. Der sollte ihm gegönnt sein als Entschädigung für die Schande, der er wegen Pitchleys Unterschlagung wesentlicher Fakten in letzter Zeit ausgesetzt gewesen war. Mehr hatte Pitchley im Moment nicht zu bieten, und so stand er mit gesenktem Kopf da während Azoff wütete.
»Ich setze mich mit einem Bekannten in Verbindung, der Ihre Finanzen zu Ihrer Zufriedenheit managen kann«, sagte er.
»Tun Sie das«, versetzte Azoff, ohne sich zu einem Gegenangebot herabzulassen und etwa einen Kollegen aus der Anwaltschaft zu empfehlen, der bereit wäre, einen Mandanten zu betreuen, der ihn im Dunkeln tappen ließ. Aber Pitchley hatte so etwas auch nicht von ihm erwartet. Er erwartete schon lange nichts mehr.
So war das nicht immer gewesen. Zwar konnte man nicht behaupten, dass er früher große Erwartungen gehabt hatte, aber Träume, ja, die hatte er gehabt. Katja hatte ihm die ihren anvertraut, atemlos flüsternd, wenn das Haus abends still war, bei den Englischstunden und ihren Gesprächen oben in der Mansarde. Immer hatte sie mit einem Ohr auf das Babyfon gelauscht, um sofort zur Stelle zu sein, wenn die Kleine unruhig wurde oder schrie - wenn sie ihre Katja brauchte.
»Es gibt doch diese Schulen, wo man lernt, Mode zu entwerfen«, sagte sie. »Du weißt schon, elegante Kleider und so. Du hast die Zeichnungen gesehen, die ich mache, nicht? Auf so eine Schule will ich gehen, wenn ich das Geld gespart habe. Weißt du, James, die Mode bei uns ... Ach, ich kann es nicht beschreiben, aber ihr habt Farben, oh, eure Farben ... Und schau doch mal, der Schal, den ich mir gekauft habe. Er ist von Oxfam, James. Irgendjemand hat ihn verschenkt!« Und dann holte sie den Schal heraus und wirbelte ihn herum wie eine orientalische Tänzerin, ein langes Stück zerschlissener Seide, an dem sich der Fransenbesatz gelockert hatte, aber für sie ein Schleier, eine Schärpe, eine Stola. Zwei solcher Schals, und es wurde eine Bluse daraus. Fünf, und sie zauberte einen vielfarbigen Rock. »Das ist das, was ich einmal machen will«, pflegte sie zu sagen. Ihre Augen blitzten dabei, und ihre Wangen waren gerötet, und der Rest ihrer Haut war milchweißer Samt. Ganz London kleidete sich schwarz. Katja nie. Katja war ein Regenbogen, eine Huldigung an das Leben.
Und von ihr inspiriert, hatte er seine eigenen Träume gehabt. Keine Pläne wie sie, nichts Konkretes, etwas Zartes, das gehegt werden wollte wie eine Feder, die verschmutzt und zum Fliegen nicht mehr taugt, wenn sie zu lange fest gehalten wird.
Er würde sich Zeit lassen, sagte er sich. Sie waren beide jung. Sie hatte ihre Ausbildung vor sich, und er wollte sich in der City etablieren, bevor er sich an ein so verantwortungsvolles Unternehmen wie die Ehe heranwagte. Aber wenn der rechte Zeitpunkt gekommen war ... ja, Katja war die Richtige. So ganz anders und unglaublich fähig, etwas aus sich zu machen, so voller Eifer zu lernen, bereit - nein, verzweifelt bemüht -, diejenige hinter sich zu lassen, die sie gewesen war, um diejenige zu werden, die sie werden wollte und werden zu können glaubte. Sie war tatsächlich sein weibliches Pendant. Sie wusste es noch nicht und würde es auch nie erfahren, wenn es nach ihm ginge, aber falls sie es doch entdecken sollte, so unwahrscheinlich das auch war, würde sie verstehen. Wir haben alle unsere Wolkenkuckucksheime, würde er zu ihr sagen.
Hatte er sie geliebt? Oder hatte er in ihr nur seine beste Chance auf ein Leben gesehen, in dem er sich im Schatten ihrer ausländischen Herkunft würde verbergen können? Er wusste es nicht. Er hatte nie die Möglichkeit erhalten, es zu erfahren, und konnte auch aus einer Distanz von zwanzig Jahren nicht sagen, wie es zwischen ihnen beiden geworden wäre. Eines aber wusste er mit Sicherheit - dass er endlich genug hatte.
Nachdem er den Porsche abgeholt hatte, fuhr er los, um eine Reise anzutreten, von der er wusste, das sie schon lange fällig war. Sie führte ihn quer durch London, zuerst in südlicher Richtung aus Hampstead hinaus und hinunter zum Regent' s Park, dann ostwärts, immer weiter ostwärts bis in den Hades, in dem seine Albträume ihre Wurzeln hatten.
Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Gegenden Londons war Tower Hamlets nie von den Reichen und Schönen entdeckt worden. Filme, die hier gedreht wurden, zeigten keine witzigen jungen Leute, die sich leidenschaftlich verliebten, ein Boheme-Leben führten und dem Viertel den morbiden Charme verarmten Adels verliehen,
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