11 - Nie sollst Du vergessen
»Deiner hieß Derek, Bonnie. Schau dir den Stiernacken von dem Mann an, Mädchen. Dem hab ich die Arme nicht um den Hals legen können, das kannst du mir glauben. O ja, war schon ein Mann, dein Vater, Bon.« Und so ging es weiter, die Reihe entlang, immer der gleiche Vortrag, einmal die Woche, damit die Kinder es nicht vergaßen.
»Darf man fragen, was du willst, Jim?«, sagte seine Mutter und griff ächzend nach der Fernbedienung des Fernsehapparats. Mit zusammengekniffenen Augen starrte sie einen Moment auf den Bildschirm, als wollte sie sich einprägen, was gerade lief, dann stellte sie den Ton leiser.
»Ich geh weg«, sagte er. »Das wollte ich dir nur sagen.«
Sie sah ihn ruhig an. »Du warst schon die ganze Zeit weg, Kleiner. Wie viele Jahre jetzt? Was soll da plötzlich anders sein?«
»Dass ich nach Australien gehe«, antwortete er. »Oder Neuseeland. Kanada vielleicht. Ich weiß noch nicht. Aber ich wollte dir sagen, dass es auf Dauer ist. Ich löse hier alles auf und fange neu an. Ich wollt's dich wissen lassen, damit du es den anderen sagen kannst.«
»Ich glaub nicht, dass die sich bis jetzt groß Gedanken drüber gemacht haben, wo du geblieben bist«, entgegnete seine Mutter.
»Ich weiß. Trotzdem ...« Er fragte sich, wie viel seine Mutter wusste. So weit er sich erinnern konnte, hatte sie nie Zeitung gelesen. Das ganze Land konnte zum Teufel gehen - ob die Politiker sich schmieren ließen, die Royals stürzten, das Oberhaus zu den Waffen griff, um sich gegen die Pläne des Unterhauses zu seiner Abschaffung zu wehren, ob Sportler starben, Rockstars an Überdosen von Designer-Drogen krepierten, Züge verunglückten, auf dem Piccadilly Bomben explodierten -, das alles interessierte sie nicht und hatte sie nie interessiert. Sie würde also nicht wissen, was einem gewissen James Pitchford widerfahren war und was dieser unternommen hatte, damit ihm nicht noch mehr passierte.
»Alte Zeiten eben«, sagte er vage. »Du bist schließlich meine Mutter. Ich hab mir gedacht, du hast ein Recht darauf.«
»Hol mir mal meine Kippen«, sagte sie mit einer Kopfbewegung zu einem Tisch beim Sofa, wo auf einer Frauenzeitschrift eine Packung Benson & Hedges lag. Er brachte ihr die Zigaretten, und sie zündete sich eine an, den Blick auf den Bildschirm des Fernsehgeräts gerichtet, wo die Kamera aus der Vogelperspektive einen Billardtisch zeigte, an dem ein Spieler stand und zu seinem nächsten Stoß ausholte.
»So, so, alte Zeiten«, wiederholte sie. »Nett von dir, Jim. Also dann, alles Gute.« Und sie stellte den Ton des Fernsehapparats wieder laut.
Er trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen, sah sich nach etwas um, womit er sich beschäftigen könnte. Er war eigentlich gar nicht ihretwegen hierher gekommen, aber er sah ihr an, dass sie ihm nichts über seine Geschwister sagen würde, wenn er sie direkt fragte. Sie schuldete ihm nichts, das wussten sie beide. Man tat nicht ein Vierteljahrhundert lang so, als hätte es die eigene Vergangenheit nie gegeben, und kreuzte dann aus heiterem Himmel bei der Mutter auf, weil man sich Hilfe von ihr erhoffte.
Er sagte: »Es tut mir echt Leid, Mama. Wirklich. Aber es war der einzige Weg.«
Sie winkte ab. Der Rauch ihrer Zigarette schob sich wie eine graue Schlange durch die Luft. Und bei dem Anblick fühlte er sich schlagartig in eine andere Zeit zurückversetzt. Es war genau in diesem Zimmer hier, seine Mutter lag auf dem Boden, sie hatte Wehen, das Kind drängte ans Licht, und sie rauchte eine Zigarette nach der anderen, denn wo, zum Teufel, blieb der Rettungswagen, den sie gerufen hatte? Verdammt noch mal, hatte sie vielleicht kein Recht auf Hilfe, wenn's nötig war? Er war ganz allein mit ihr gewesen, als es losgegangen war. Geh nicht weg, Jim. Lass mich jetzt nicht allein, mein Junge. Das Ding war so schleimig wie ein ungekochter Kabeljau und ganz blutig, und es hing immer noch an der Nabelschnur, und sie rauchte die ganze Zeit, paffte unaufhörlich, während das Kind kam, und der Rauch schob sich durch die Luft wie eine graue Schlange.
Pitchley ging in die Küche, um die Erinnerung an den Zehnjährigen abzuschütteln, der zu Tode erschrocken mit dem blutigen Neugeborenen in den Armen im Zimmer gestanden hatte. Halb vier Uhr morgens war es gewesen. Seine Brüder und die Schwester hatten geschlafen, die Nachbarn hatten geschlafen, die ganze beschissene Welt hatte geschlafen, alle hatten sie ihre Träume geträumt und sich einen Dreck gekümmert.
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