11 - Nie sollst Du vergessen
ausholende Bewegung, die Pitchley und die schäbige Behausung seiner Kindheit umfasste. »Wegen der alten Zeiten bist du doch bestimmt nicht hergekommen, Jay, oder? Die möchtest du doch am liebsten vergessen. Aber ich will dir mal was sagen - es gibt Leute, die sich das nicht leisten können. Uns fehlt das nötige Kleingeld, Jay, und darum bleibt alles, was wir erlebt haben, schön da oben drin und dreht sich wie ein Karussell.« Wieder hob er die Hand mit der Bierdose, um zu demonstrieren, wie sich das Karussell in seinem Kopf drehte. Dann stopfte er beide Dosen in die Plastiktüte, die vom Knopf einer der Küchenschubladen herabhing und der Familie als Müllbeutel diente.
»Ich weiß«, sagte Pitchley.
»Du weißt, du weißt«, höhnte sein Bruder. »Du weißt gar nichts, Jay, und das solltest du mal lieber nicht vergessen.«
Wohl zum tausendsten Mal sagte Pitchley zu seinem Bruder:
»Ich habe dich nicht gebeten, dich mit ihnen anzulegen. Was du getan hast -«
»Na klar, na klar. Du hast mich nicht gebeten, du hast nur gesagt: ›Hast du gesehen, was sie über mich geschrieben haben, Rob?‹ Genau das hast du gesagt. ›Die reißen mich in Stücke‹, hast du gesagt. ›Wenn das vorbei ist, dann ist von mir nichts mehr übrig.‹«
»Kann ja sein, dass ich das gesagt habe, aber ich meinte doch nur -«
»Scheiß drauf, was du gemeint hast!« Robbie trat mit dem Fuß gegen einen Schrank.
Pitchley zuckte zusammen.
»Was ist denn hier los?« Brent war zurück, mit den Zigaretten seiner Mutter, und er zündete sich eine an.
»Dieser Witzbold will schon wieder abhauen und behauptet, er weiß noch nicht, wohin. Wie findest du das?«
Brent kniff die Augen zusammen. »Hey, das ist echt Scheiße, Mann«, sagte er zu Pitchley.
»Da hast du verdammt Recht. Scheiße ist das!« Robbie stach mit einem Finger nach Pitchleys Gesicht. »Ich hab für dich gesessen. Sechs Monate war ich im Knast. Hast du 'ne Ahnung, was da drinnen läuft? Ich kann's dir sagen.« Und dann leierte er sie herunter, dieselbe alte Litanei, die Pitchley jedesmal zu hören bekam, wenn sein Bruder mehr Geld haben wollte. Sie begann mit der Ursache von Robbies Problemen mit dem Gesetz: Er hatte einen Journalisten zusammengeschlagen, der in James Pitchfords sorgfältig konstruierter Vergangenheit tatsächlich Jimmy Pytches aufgestöbert und die Story, die er von einem Informanten bei der Polizei Tower Hamlets erhalten hatte, nicht nur veröffentlicht hatte, sondern ihr gleich noch einen zweiten Bericht hatte folgen lassen, trotz allen Warnungen Robs, der überhaupt nichts - »einen Dreck, Jay, verstehst du mich?« - dadurch zu gewinnen hatte, dass er in die Bresche sprang, um den Ruf eines Bruders zu schützen, der die Familie vor Jahren im Stich gelassen hatte. »Du hast dich doch um keinen von uns gekümmert, solange du uns nicht gebraucht hast, Jay, und dann hast du uns ausgenützt bis aufs Blut.«
Er hat wirklich ein unglaubliches Talent, die Geschichte umzuschreiben, dachte Pitchley und sagte: »Du hast dich damals um mich ›gekümmert‹, Rob, weil du mein Bild in der Zeitung gesehen hattest. Du bist nur gekommen, weil du die Chance gewittert hast, mich dir zu verpflichten. Man schlägt ein paar Schädel ein, man bricht ein paar Knochen. Und das alles nur, damit Jimmys Vergangenheit nicht raus kommt. Das wird ihm bestimmt gefallen. Der schämt sich ja seiner Familie. Und wir brauchen nur dafür zu sorgen, dass er immer ein bisschen Angst hat, wir könnten plötzlich aus der Versenkung auftauchen, dann schiebt er die Kohle schon rüber, der Trottel. Und zwar immer dann, wenn wir welche brauchen.«
»Ich hab in einer Zelle gehockt«, brüllte Robbie. »Ich hab in 'nen gottverdammten Eimer geschissen. Hast du das kapiert, Kumpel? Die haben mich in der Dusche ran genommen, Jay. Und was ist dir passiert, hm?«
»Du!«, schrie Pitchley. »Du und Brent, ihr seid mir passiert! Ihr beide sitzt mir doch seitdem unaufhörlich im Nacken und haltet die Hände auf.« »Wieso, was -«, begann Brent, aber sein Bruder ließ ihn nicht ausreden.
»Halt du bloß die Schnauze!« Rob warf den Müllbeutel nach Brent. »Du kapierst doch überhaupt nichts, du blöder Hund.«
»Er hat gesagt -«
»Schnauze! Ich hab selbst gehört, was er gesagt hat. Hast du nicht begriffen, was er meint? Dass wir Schmarotzer sind. Das meint er. Dass wir ihm was schulden, und nicht umgekehrt.«
»Das sage ich doch gar nicht.« Pitchley griff in seine Tasche. Er zog das
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