11 - Nie sollst Du vergessen
nicht.«
»Er hat sie nicht vergessen, das stimmt«, sagte Lynley, »aber die Gründe sind andere, als Sie glauben. Frances, wir vergessen nicht. Wir können gar nicht vergessen. Was wir erleben, lässt uns nicht unberührt. Aber die Tatsache, dass wir uns erinnern, heißt allein das, nicht mehr und nicht weniger. Denn so arbeitet unser Verstand. Er behält die Dinge in Erinnerung. Und wenn wir Glück haben, entstehen aus dem Erinnern keine Albträume. Mehr können wir uns nicht erhoffen.«
Lynley wusste, dass er sich auf einem schmalen Grat zwischen Lüge und Wahrheit bewegte. Er hielt es für ziemlich wahrscheinlich, dass das, was Webberly während dieser Beziehung zu Eugenie Davies und in den darauf folgenden Jahren erlebt hatte, weit über bloßes Erinnern hinausging. Aber das zählte im Augenblick nicht. Jetzt kam es einzig darauf an, dass Webberlys Frau einen Teil der letzten achtundvierzig Stunden verstand. Darum erklärte er es ihr noch einmal. »Frances, er hat sich nicht absichtlich vor ein Auto geworfen. Er wurde angefahren. Jemand wollte ihn töten. In den nächsten Stunden oder Tagen wird sich zeigen, ob dieser Jemand Erfolg gehabt hat; denn es kann sein, dass Malcolm sterben wird. Zumal er auch noch einen schweren Herzinfarkt hatte. Das hat man Ihnen doch mitgeteilt, nicht wahr?«
Ein schrecklicher Laut kam ihr über die Lippen, halb wie das Brüllen einer Gebärenden und halb wie das angstvolle Jammern eines verlassenen Kindes. »Malcolm darf nicht sterben«, wimmerte sie. »Ich habe solche Angst.«
»Da sind Sie nicht allein«, sagte Lynley.
Nur dank ihrem Termin in einem Frauenhaus behielt Yasmin Edwards in der Zeit zwischen ihrem Anruf bei Constable Nkata und ihrem Treffen mit ihm in ihrem Laden die Nerven. Er hatte gesagt, er müsse erst von Hampstead herüberfahren und könne darum nicht mit Sicherheit sagen, wann er da sein werde, aber er werde so schnell wie möglich kommen, und in der Zwischenzeit könne sie ihn jederzeit anpiepen, falls sie plötzlich Befürchtungen bekäme, er würde nicht kommen oder hätte den Termin vergessen oder wäre irgendwo hängen geblieben. Er würde ihr dann genau sagen, wo er sich gerade befinde. Sie hatte gesagt, sie könne auch zu ihm kommen oder sich irgendwo auf halbem Weg mit ihm treffen. Das wäre ihr sogar lieber, hatte sie erklärt. Aber er hatte ihren Vorschlag abgelehnt und gemeint, es sei das Beste, wenn er zu ihr komme.
Beinahe hätte sie es sich da anders überlegt. Aber dann dachte sie an die Galveston Road Nummer fünfundfünfzig, an Katjas Küsse und was es hieß, dass Katja noch immer hinabgleiten und sie lieben konnte. Und sie sagte: »In Ordnung. Ich warte dann im Laden auf Sie.«
Aber erst einmal fuhr sie zu ihrem Termin in dem Frauenhaus in Camberwell. Drei Schwestern in den Dreißigern, eine Asiatin und eine alte Frau, die seit sechsundvierzig Jahren verheiratet war, lebten zur Zeit dort. Sie teilten miteinander zahllose blaue Flecke, zwei Veilchen, vier Platzwunden an den Lippen, eine zusammengeflickte Wange, ein gebrochenes Handgelenk, eine ausgekugelte Schulter und ein durchstochenes Trommelfell. Sie waren wie geprügelte Hunde, die vor kurzem von der Kette gelassen worden waren: geduckt und zwischen Flucht und Angriff schwankend.
Lasst euch von niemandem so was gefallen, hätte Yasmin die Frauen am liebsten angeschrien. Das Einzige, was sie davon abhielt, waren die Spuren in ihrem eigenen Gesicht - die Narbe und die nach einem Bruch schlecht verheilte Nase -, die genug darüber sagten, was sie selbst sich einmal alles hatte gefallen lassen.
Sie sah die Frauen deshalb nur mit einem breiten Lächeln an und sagte: »Kommt doch rüber, ihr Klasseweiber.« Insgesamt blieb sie zwei Stunden und arbeitete mit ihren Schminkutensilien, ihren Farbmustern, mit Schals, Düften und Perücken. Und als sie schließlich ging, konnten drei der Frauen wieder lächeln, die vierte hatte tatsächlich ein Lachen zustande gebracht, und die fünfte wagte es, den Blick vom Boden zu heben. Yasmin war zufrieden mit ihrer Arbeit.
Sie fuhr zum Laden zurück. Als sie ankam, marschierte schon der Bulle auf der Straße auf und ab. Sie beobachtete, wie er auf die Uhr schaute und versuchte, hinter den eisernen Vorhang zu spähen, den sie vor dem Laden herunterzulassen pflegte, wenn sie nicht da war. Dann schaute er wieder auf seine Uhr, zog seinen piepser aus dem Halter an seinem Gürtel und gab eine Nummer ein.
Yasmin fuhr in dem alten Fiesta vor und öffnete
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