11 - Nie sollst Du vergessen
Ich sah, wie es sich entwickelte; es war, als würde mir eine Studie des ganzen Prozesses der Liebe vorgeführt. Wie in einem Fernsehspiel. Und ich habe immer nur gewartet, weil ich von Anfang an wusste, was mit ihm los war. Er müsse einfach darüber sprechen, sagte er. Wegen Randie ... weil diese armen Menschen ein kleines Mädchen verloren hätten, das nicht viel jünger gewesen sei als unsere Randie, und er könne mitfühlen, wie entsetzlich es für sie sei, wie sehr sie litten, besonders die Mutter, und: ›Kein Mensch scheint mit ihr darüber sprechen zu wollen, Frances. Sie hat niemanden. Sie lebt unter einer Glocke des Schmerzes - nein, unter einer Giftwolke des Schmerzes, die keiner ihr zu lichten hilft. Das ist unmenschlich, Frances. Unmenschlich! Jemand muss ihr helfen, bevor sie erstickt.‹ Und damit stand für ihn fest, dass er ihr helfen würde. Er würde diesen Mörder hinter Schloss und Riegel bringen, so wahr ihm Gott helfe, ›Ich werde nicht rasten noch ruhen, Frances, Liebes, bis dieser Mörder seine gerechte Strafe bekommt. Denn wie würden wir uns fühlen, wenn jemand - was Gott verhüten möge - unserer Randie etwas antäte? Wir würden die Nächte aufbleiben, nicht wahr, wir würden in allen Straßen suchen, wir würden nicht schlafen und nicht essen, wir würden tagelang nicht heimkehren, wenn das erforderlich wäre, um das Ungeheuer zu finden, das unserem Kind etwas Böses getan hat.‹«
Lynley ließ langsam seinen Atem entweichen und merkte erst jetzt, dass er ihn angehalten hatte, seit Frances zu sprechen begonnen hatte. Er fühlte sich dieser Situation nicht gewachsen. Hilfesuchend blickte er zu seiner Frau, und als er sah, dass sie die Finger an den Mund drückte, wusste er, dass das, was sie empfand, eine tiefe Trauer war - eine tiefe Trauer wegen all dem, was zwischen Frances Webberly und ihrem Mann viel zu lange unausgesprochen geblieben war. Unwillkürlich fragte er sich, was denn eigentlich schlimmer war: jahrelang die Folter der eigenen Fantasien zu ertragen oder innerhalb von Sekunden durch die Wahrheit den Tod zu erfahren.
Helen sagte: »Frances, wenn Malcolm Sie nicht geliebt hätte -«
»Pflichtgefühl.« Frances ging daran, das Taschentuch wieder sehr sorgsam zu falten.
»Aber das ist meiner Ansicht nach ein Teil der Liebe, Frances«, sagte Lynley. »Es ist nicht der einfache Teil. Es ist nicht wie dieser erste Sturm der Gefühle: dieses heiße Begehren und die unerschütterliche Gewissheit, man sei vom Schicksal füreinander bestimmt, und, ach, welch ein Glück, dass wir einander gefunden haben! Es ist der schwierige Teil, bei dem es um die Möglichkeit der Wahl geht und die Entscheidung, am Kurs festzuhalten.«
»Ich habe ihm gar keine Wahl gelassen«, entgegnete Frances Webberly.
»Frances«, sagte Helen leise, und Lynley konnte allein ihrem Ton entnehmen, was die nächsten Worte sie kosteten. »Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass Sie über diese Macht gar nicht verfügen.«
Die Worte veranlassten Frances zu einem scharfen Blick auf Helen, aber natürlich konnte sie nicht hinter die Fassade sehen, die Helen errichtet hatte, um in der Welt zu leben, die sie vor langer Zeit für sich erschaffen hatte: die schicke Frisur, die makellose und sorgfältig gepflegte Haut, die manikürten Nägel, der perfekte schlanke Körper, der wöchentlich massiert wurde, die eleganten Kleider für Frauen, die wussten, was Eleganz war und wie man sie einsetzte. Aber die wahre Helen, in der sie die Frau hätte erkennen können, die einst aus dem Leben eines Mannes geflüchtet war, den sie geliebt hatte, weil sie es nicht fertig brachte, an einem Kurs festzuhalten, der sich ihrer Meinung nach und für ihre Möglichkeiten allzu radikal geändert hatte ... Diese Helen kannte Frances Webberly nicht und hatte daher keine Ahnung davon, dass niemand besser als Helen wusste, dass niemals ein Einzelner allein durch seinen Zustand - ob geistig, seelisch, sozial, körperlich oder in Kombination dieser verschiedenen Aspekte - die Entscheidungen eines anderen wirklich bestimmen konnte.
»Frances«, sagte Lynley, »eines müssen Sie wissen: Malcolm hat sich nicht vor ein Auto geworfen. Ja, Eric Leach hat ihn angerufen, um ihn von Eugenie Davies' Tod in Kenntnis zu setzen, und ich nehme an, Sie haben in der Zeitung von ihrem Tod gelesen.«
»Er war verstört. Ich glaubte, er hätte sie vergessen, aber dann wurde mir klar, dass das nicht der Fall war. Er hat sie nie vergessen, in all den Jahren
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