11 - Nie sollst Du vergessen
Welt uns geschenkt worden ist‹, sagte er bei ihrer Geburt. Deswegen musste sie Miranda getauft werden. In seinen Augen war sie vollkommen. Die Vollkommenheit schlechthin. Ich konnte nicht einmal hoffen, so zu sein. Niemals. Daddy hatte eine Prinzessin.«
Sie griff nach dem Weinglas, das Lynley abgestellt hatte, wollte es nehmen und hielt plötzlich inne. »Nein. Nein, das stimmt nicht«, sagte sie. »Nicht Prinzessin. Nein. Daddy hatte eine Königin gefunden.« Ihr Blick blieb starr auf das Glas mit dem Brandy gerichtet, aber in ihren Augen sammelten sich Tränen.
Lynley schaute Helen an, die rechts hinter Frances stand, und sah, dass sie in diesem Moment genau wie er am liebsten geflohen wäre. Sich mit der Eifersucht einer Mutter konfrontiert zu sehen, die so stark war, dass sie ihr Opfer selbst angesichts einer Krise auf Leben und Tod nicht loslassen konnte ... Das war mehr als erschreckend, fand Lynley. Es war obszön. Er kam sich vor wie ein Voyeur.
Helen sagte: »Wenn Malcolm auch nur die kleinste Ähnlichkeit mit meinem Vater hat, Frances, dann vermute ich, dass er immer überzeugt war, Randie gegenüber eine besondere Verantwortung zu haben, weil sie eine Tochter ist und nicht ein Sohn.«
»Ja, ich habe das in meiner eigenen Familie erlebt«, fügte Lynley hinzu. »Mein Vater hat meine ältere Schwester völlig anders behandelt als mich. Oder auch als meinen jüngeren Bruder. Wir waren in seinen Augen längst nicht so verletzlich. Wir mussten gestählt werden. Aber meiner Ansicht nach heißt das alles doch nur -«
Frances zog ihre Hand unter der seinen heraus. »Nein«, sagte sie. »Sie haben schon Recht. Ich meine, im Krankenhaus, mit dem, was sie denken. Die Königin ist tot, und jetzt kommt er mit dem Leben nicht mehr zurecht. Darum hat er sich gestern Abend vor ein Auto geworfen.« Zum ersten Mal sah sie Lynley direkt an. Noch einmal sagte sie: »Die Königin ist endgültig tot. Niemand kann sie ersetzen. Ganz gewiss nicht ich.«
Und Lynley verstand plötzlich. »Sie haben es gewusst«, sagte er im selben Moment, als Helen rief: »Frances, Sie dürfen niemals glauben -«
Frances brachte sie zum Schweigen, indem sie aufstand.
Sie trat zu einem der beiden Nachttische, zog die Schublade heraus und stellte sie aufs Bett. Von ganz hinten, getrennt von den restlichen Gegenständen, die hier verwahrt waren, nahm sie ein kleines gefaltetes Tüchlein aus weißem Leinen. Wie ein Priester bei einem Ritual schüttelte sie es zuerst auseinander und breitete es dann auf dem Bettüberwurf aus.
Lynley trat näher. Helen ebenfalls. Alle drei sahen sie auf das weiße Stück Leinen hinunter, ein Taschentuch gewöhnlicher Art bis auf zwei Details: In einer Ecke waren die ineinander verschlungenen Initialen E und D zu erkennen, und in der Mitte war ein rostfarbener Fleck, Erinnerung an ein kleines Drama aus der Vergangenheit. Er schneidet sich in den Finger, den Handballen, den Handrücken, während er irgendetwas für sie tut - ein Brett durchsägt, einen Nagel einschlägt, ein Glas abtrocknet, die Scherben einer versehentlich zerschlagenen Tasse aufhebt -, und sie zieht eilig das Taschentuch aus ihrer Jackentasche, ihrer Handtasche, ihrem Pulloverärmel, ihrem Büstenhalter und drückt es auf seine Haut, weil er nie eines bei sich hat. Dieses kleine Stück Leinen findet seinen Weg in die Tasche seiner Hose, seines Jacketts, seines Mantels, wo er es vergisst und seine Frau es findet, als sie die Wäsche sortiert, die Sachen für die Reinigung, für die Kleidersammlung zurecht legt - und sofort weiß, was es ist, und es aufbewahrt.
Wie viele Jahre lang?, fragte sich Lynley. Wie viele gottverdammte, schreckliche Jahre lang, in denen sie nicht ein einziges Mal gefragt hatte, was dieses Taschentuch zu bedeuten hatte, ihrem Mann niemals die Gelegenheit gab, die Wahrheit zu sagen, wie immer diese Wahrheit auch aussah, oder zu lügen, eine Erklärung zu erfinden, die vielleicht völlig glaubwürdig gewesen wäre oder wenigstens so plausibel, dass sie daran hätte festhalten können, um sich selbst zu belügen.
»Frances«, sagte Helen, »darf ich das wegwerfen?« Sie legte ihre Finger nicht auf das Taschentuch, sondern daneben, als wäre es eine Reliquie und sie eine Novizin in irgendeiner obskuren Glaubensgemeinschaft, wo nur die Geweihten das Heiligtum berühren durften.
Frances sagte: »Nein!«, und packte das Tuch. »Er hat sie geliebt«, fuhr sie fort. »Er hat sie geliebt, und ich wusste es. Ich sah es kommen.
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