11 - Nie sollst Du vergessen
sprechen über alte Zeiten, über ihre Ehe, weiß der Himmel über was noch. Alles lebt noch einmal auf. Er ist, wie gesagt, ganz versessen darauf, einen zweiten Versuch zu machen, und da erfährt er, dass Eugenie schon jemanden für ihr Bett in Aussicht hat: Wiley.«
»Nein, nicht Wiley«, widersprach Lynley. »Der ist zu alt. Davies hätte in ihm keinen Rivalen gesehen. Außerdem hat Wiley uns doch berichtet, sie wollte ihm irgendetwas beichten. Das hatte sie selbst zu ihm gesagt. Aber vor drei Tagen war sie noch nicht bereit dazu -«
»- weil sie nach London wollte«, fiel Barbara ihm ins Wort.
»Zu Pitchley, Pitchford, Pytches«, sagte Lynley. »Immer ist das Ende der Anfang, nicht wahr?« Er fand in seinen Aufzeichnungen einen Hinweis, der die ganze Zeit dort gewesen war und nur auf die richtige Interpretation gewartet hatte. »Moment«, sagte er.
»Als ich die Möglichkeit eines anderen Mannes zur Sprache brachte, hat Davies sofort auf ihn getippt, Barbara. Er hat ihn sogar namentlich genannt. Es schien keinen Zweifel für ihn zu geben. Ich habe es hier in meinen Notizen: Er nannte unverzüglich den Namen Pytches.«
»Pytches?«, fragte Barbara. »Nein. Doch nicht Pytches, Inspector. Das kann nicht -«
Lynleys Handy klingelte. Er nahm es vom Tisch und hob einen Finger, um Barbara zu bedeuten, sie möge mit ihren Ausführungen einen Moment warten. Aber sie brannte darauf, fortzufahren. Ungeduldig drückte sie ihre Zigarette aus und sagte: »An welchem Tag haben Sie mit Davies geredet, Inspector?«
Lynley winkte ab, hielt sein Handy ans Ohr und sagte: »Lynley.«
»Leach hier«, blaffte es. »Wir haben ein weiteres Opfer.«
Winston Nkata las die Aufschrift - Strafanstalt Holloway - und machte sich bewusst, dass sein Leben vielleicht eine andere Wendung genommen hätte und er selbst eines Tages im Knast gelandet wäre, wenn nicht seine Mutter beim Anblick ihres Sohnes, der mit einer furchtbaren Schnittverletzung im Gesicht, die gerade mit vierunddreißig Stichen genäht worden war, in der Notaufnahme des Krankenhauses lag, ohnmächtig geworden wäre. Natürlich wäre er nicht in dieser Anstalt hier gelandet, die war nur für Frauen, aber in einer ähnlichen. Im The Scrubbs, vielleicht, oder in Dartmoor oder im The Ville. Hinter Gittern, weil er mit dem Leben in Freiheit nicht hatte umgehen können.
Aber seine Mutter war ohnmächtig geworden. »Oh, Herzblatt«, hatte sie noch gemurmelt und war umgekippt wie ein gefällter Baum. Und als er sie dort auf dem Boden liegen sah, den Turban verrutscht, so dass er das erste Mal wahrnahm, was er nie zuvor bemerkt hatte - dass ihr Haar grau zu werden begann -, da hatte er endlich begriffen, dass sie nicht die unerschütterliche starke Frau war, als die er sie immer gesehen hatte, sondern eine normale Frau, eine Frau, die liebte und sich darauf verließ, dass er ihr Grund geben würde, stolz darauf zu sein, ihn geboren zu haben. Da war es entschieden gewesen.
Aber hätte es diesen Moment nicht gegeben, wäre nicht seine Mutter, sondern sein Vater gekommen, um ihn abzuholen, und hätte ihn mit dem ganzen Maß an zorniger Verachtung, das er verdiente, auf den Rücksitz des Wagens bugsiert, so hätte sich vielleicht alles ganz anders entwickelt. Vielleicht hätte er geglaubt, demonstrieren zu müssen, dass ihm der Unmut seines Vaters gleichgültig war, vielleicht hätte er geglaubt, es damit demonstrieren zu müssen, dass er sich noch wilder in den lange währenden Kampf zwischen den Brixton Warriors und der kleineren, erst kürzlich hoch gekommenen Gang der Longborough Bloods um ein Gelände namens Windmill Gardens stürzte. Aber es hatte diesen Moment gegeben, und er hatte sein Leben verändert, und es hatte ihn hierher geführt, wo er jetzt stand: den Blick auf die fensterlose Backsteinfestung des Holloway-Gefängnisses gerichtet, hinter dessen Mauern Katja Wolff Yasmin Edwards und Noreen McKay begegnet war.
Er hatte auf der gegenüber liegenden Straßenseite geparkt, vor einem Pub, dessen Fenster mit Brettern vernagelt waren. Es hätte in Belfast stehen können. Er hatte eine Orange gegessen, das Gefängnistor angestarrt und darüber nachgedacht, was es alles zu bedeuten hatte. Im Besonderen hatte er darüber nachgedacht, was es zu bedeuten hatte, dass die Deutsche bei Yasmin Edwards lebte, aber gleichzeitig, wie er beim Anblick der zwei sich vereinigenden Schatten im Fenster des Hauses in der Galveston Road vermutet hatte, ein Verhältnis mit einer anderen
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