11 - Nie sollst Du vergessen
wissen zu lassen, dass du sie geschwängert und dir dabei vorgestellt hast, du würdest meine Mutter vögeln.«
»Sie hätte abtreiben können. Das wäre ganz einfach gewesen.«
»Nichts ist so einfach, Raphael. Außer zu lügen. Und das war für uns alle das Einfachste, nicht wahr?«
»Nicht für deine Mutter«, entgegnete Raphael. »Darum ist sie gegangen.«
Er näherte sich mir wieder und legte mir die Hand auf die Schulter, so fest wie zuvor. Er sagte: »Sie hätte dir die Wahrheit gesagt, Gideon. Das musst du deinem Vater glauben. Deine Mutter hätte dir die Wahrheit gesagt.«
21. November, 1.30 Uhr nachts.
Das ist alles, was mir geblieben ist, Dr. Rose: eine Beteuerung. Wäre sie am Leben geblieben, hätten wir die Gelegenheit bekommen, miteinander zu sprechen, und sie hätte mir alles gesagt.
Sie hätte mich an der Hand genommen und durch meine eigene Geschichte geführt und dort korrigiert, wo meine Eindrücke falsch und meine Erinnerung unvollständig waren.
Sie hätte mir die Einzelheiten erklärt, derer ich mich entsinne. Sie hätte die Lücken gefüllt. Aber sie ist tot und kann nichts mehr tun. Und was mir bleibt, ist nur das, woran ich mich erinnere.
27
Richard sagte zu seinem Sohn: »Gideon, was tust du hier?«
Gideon erwiderte: »Was ist dir passiert?«
»Jemand wollte ihn töten«, sagte Jill. »Er glaubt, dass es Katja Wolff war. Er hat Angst, dass sie als Nächstes versuchen wird, dir etwas anzutun.«
Gideon sah erst sie an und dann seinen Vater. Er schien aufs Äußerste verwundert. Nicht erschrocken, dachte Jill, nicht entsetzt, dass Richard beinahe ums Leben gekommen wäre, sondern einzig verwundert. Er sagte: »Warum sollte Katja das wollen? Damit würde sie wohl kaum erreichen, worauf sie es abgesehen hat.«
»Gideon ...«, sagte Richard bedrückt.
»Richard glaubt, dass sie dir auch ans Leben will«, erläuterte Jill. »Er glaubt, dass sie ihn vor den Bus gestoßen hat. Er hätte tot sein können.«
»Hat er dir das erzählt?«
»Herrgott noch mal! So war es«, sagte Richard heftig. »Was tust du hier? Wie lange bist du schon da?«
Gideon antwortete nicht gleich. Er schien vielmehr im Geist eine Liste der Verletzungen seines Vaters aufzustellen. Sein Blick glitt zu Richards Bein hinunter, wanderte aufwärts zum Arm und kehrte dann zum Gesicht zurück.
»Gideon«, sagte Richard. »Ich habe dich gefragt, wie lange du schon hier bist.«
»Lange genug, um das hier zu finden.« Gideon schwenkte die Karte, die er in der Hand hielt.
Jill sah Richard an. Sie bemerkte, wie seine Augen schmal wurden.
»Auch darüber hast du mich belogen«, sagte Gideon. Richards Aufmerksamkeit war auf die Karte gerichtet. »Worüber belogen?«
»Über meine Schwester. Sie ist gar nicht gestorben. Nicht als Säugling und nicht als Kind.« Er knüllte den Umschlag in seiner Hand zusammen und ließ ihn zu Boden fallen.
Jill blickte auf die Fotografie hinunter, die sie immer noch bei sich hatte. »Aber Gideon«, sagte sie, »du weißt doch, dass deine Schwester -«
»Du hast in meinen Sachen gekramt«, unterbrach Richard.
»Ich habe Katjas Adresse gesucht. Ich vermute, du hast sie irgendwo versteckt, richtig? Aber stattdessen fand ich -«
»Gideon!« Jill hielt ihm das Foto hin, das Richard ihm geben wollte. »Ich verstehe nicht, was du da redest. Deine Schwester war doch -«
»Stattdessen«, fuhr Gideon eigensinnig fort und hielt seinem Vater die Karte hin, »habe ich das hier gefunden. Und jetzt weiß ich genau, was du bist: ein notorischer Lügner, Dad, der nicht einmal zu lügen aufhören würde, wenn sein Leben davon abhinge - oder das Leben anderer.«
»Gideon!« Jill war entsetzt, nicht über die Worte, sondern über Gideons eisigen Ton. Und in ihrem Entsetzen vergaß sie vorübergehend ihren eigenen Ärger über Richards Verhalten. Sie ließ den Gedanken nicht aufkommen, dass das, was Gideon sagte, zumindest in Bezug auf ihr Leben, wenn auch vielleicht nicht auf seines, der Wahrheit entsprach: Indem er Sonias Krankheit nie erwähnt hatte, hatte Richard sie in der Tat belogen. Sie regte sich stattdessen über die Unbeherrschtheit Gideons seinem Vater gegenüber auf. »Richard wäre vor noch nicht einmal drei Stunden beinahe umgebracht worden.«
»Bist du da sicher?«, fragte Gideon sie. »Wenn er mir über Virginia Lügen erzählt hat, wer weiß, was für Lügen er dann noch auf Lager hat.«
»Virginia?«, fragte Jill. »Wer -«
Richard sagte zu seinem Sohn: »Darüber sprechen wir
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