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11 - Nie sollst Du vergessen

11 - Nie sollst Du vergessen

Titel: 11 - Nie sollst Du vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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Kunstform aufzwingen, über Einkommen und Aktiengewinne in perverser Höhe, die zum Maß kapitalistischen Erfolgs geworden sind. Als er sich dem Schluss seines Vortrags näherte - was daran zu sehen war, dass er immer häufiger zur Kaffeetasse griff, um einen Schluck zu trinken -, wiederholte ich meine Frage, nur formulierte ich sie nicht als Frage. »Catherine würde dich an Katja erinnern«, stellte ich fest.
    Er kippte den Rest seines Kaffees ins Spülbecken. Dann ging er mit großen Schritten ins Musikzimmer und sagte: »Gottverdammt, Gideon! Was hast du vorzuweisen?« Und dann: »Ach, das nennt man also Fortschritt, wie?«
    Er hatte gesehen, dass die Guarneri wieder in ihrem Kasten lag, und wusste, auch wenn der Kasten offen war, dass ich noch nicht einmal den Versuch gemacht hatte, zu spielen. Er nahm die Geige heraus, und an der Ehrfurchtslosigkeit, mit der er zupackte und die sonst nicht seine Art war, erkannte ich, wie zornig er sein musste - oder erregt, irritiert, wütend, beunruhigt, geängstigt, ich weiß nicht, was für Emotionen ihn bewegten. Die Finger um den Hals des Instruments gekrallt, hielt er mir die Geige hin, und über seiner Faust krümmte sich die glänzende Schnecke wie Hoffnung um ein stillschweigendes Versprechen.
    »Hier«, sagte er, »nimm sie. Zeig mir, wo wir stehen. Zeig mir, wohin dieses wochenlange Wühlen im Dreck der Vergangenheit dich geführt hat, Gideon. Ein Ton reicht. Eine Tonleiter. Ein Arpeggio. Oder vielleicht wirst du mir wunderbarerweise einen Satz aus einem Konzert deiner Wahl spielen. Ganz gleich, aus welchem. Zu schwierig? Wie war's dann mit so einer kleinen Delikatesse, wie du sie sonst als Zugabe servierst?«
    Das Feuer brannte in mir, war zu flüssigem Eisen geworden.
    Weißglühend, silberglühend, strahlend rann es wie Säure durch meinen Körper und sang dabei: Umfange mich, Gideon, oder stirb.
    Ja, ja, ich weiß natürlich, was mein Vater da getan hat, Dr. Rose. Sie brauchen mich nicht erst darauf zu stoßen. Ich weiß es. Aber in diesem Moment konnte ich nur stammeln: »Ich kann nicht. Verlang das nicht von mir. Ich kann nicht.« Wie ein Neunjähriger, von dem man erwartet, dass er ein Stück spielt, das er nicht beherrscht.
    Und sofort stieß mein Vater nach, indem er sagte: »Aber vielleicht ist das ja unter deiner Würde? Zu leicht für dich, Gideon? Eine Beleidigung deines Könnens. Dann lass uns doch einfach mit dem Erzherzog anfangen, hm?«
    Die Säure fraß sich durch mich hindurch, und wie immer, wenn der Schmerz in meinen Eingeweiden tobt und mich aller Kraft beraubt, blieb nur Schuld. Ich bin schuld. Ich habe mich selbst in diese Situation gebracht.
    Beth stellte das Programm für das Benefizkonzert in der Wigmore Hall zusammen. Sie sagte in aller Unschuld: »Wie war's mit dem Erzherzog, Gideon?« Und weil gerade sie den Vorschlag machte, die schon einmal mein Versagen erlebt hatte, wenn auch im privaten Bereich, brachte ich es nicht über mich, einfach zu erwidern: »Nein, vergiss das mal lieber. Dieses Stück bringt mir nur Unglück.«
    Künstler sind abergläubisch. Beth hätte verstanden, wenn ich ihr offen gesagt hätte, wie es mir mit diesem Stück ging. Und Sherill wäre es egal gewesen, was wir spielen. Er hätte auf die typisch amerikanisch schnodderige Art, hinter der er seine unglaubliche Begabung verbirgt, gesagt: »Hey, Freunde, zeigt mir einfach, wo das Klavier steht.« Und das war's gewesen. Es war also allein meine Entscheidung, und ich habe die Dinge einfach laufen lassen. Es ist meine eigene Schuld.
    Mein Vater fand mich dort, wohin ich vor seiner Herausforderung geflohen war: im Geräteschuppen im Garten, wo ich meine Drachen entwerfe und baue. Ich zeichnete, als er kam und sich zu mir setzte. Die Guarneri lag oben im Haus wieder in ihrem Kasten.
    Er sagte: »Gideon, die Musik ist dein Leben! Ich möchte, dass du sie wieder findest. Das ist alles, was ich will.«
    »Genau das versuche ich doch«, erwiderte ich.
    »Aber glaubst du denn im Ernst, du erreichst etwas, wenn du deine Zeit mit dieser Schreiberei vergeudest und dich dreimal wöchentlich bei einer Psychiaterin auf die Couch legst?«
    »Ich liege nicht auf der Couch.«
    »Du weißt genau, was ich meine.« Er legte seine Hand auf die Skizze, an der ich arbeitete, um meine Aufmerksamkeit zu erzwingen. »Wir können die Leute nicht ewig vertrösten, Gideon«, sagte er. »Bis jetzt geht es noch - Joanne leistet da wirklich erstklassige Arbeit -, aber irgendwann wird der Moment

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