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11 - Nie sollst Du vergessen

11 - Nie sollst Du vergessen

Titel: 11 - Nie sollst Du vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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kommen, wo selbst eine loyale Mitarbeiterin wie Joanne fragen wird, was genau eigentlich das Wort ›Erschöpfung‹ bedeutet, wenn alle Anzeichen einer Besserung ausbleiben. Wenn es soweit ist, muss ich ihr entweder die Wahrheit sagen, oder ich muss mir ein Märchen einfallen lassen, das sie den Leuten erzählen kann. Und das wird die Situation vielleicht noch schlimmer machen.«
    »Dad«, sagte ich, »es ist doch Unsinn zu glauben, dass es die Leute von der Regenbogenpresse auch nur im Geringsten interessiert -«
    »Ich spreche nicht von der Regenbogenpresse. Wenn ein Rockstar plötzlich von der Bildfläche verschwindet, wühlen die Reporter jeden Morgen seinen Müll durch, weil sie hoffen, etwas zu finden, das ihnen den Grund verrät. Aber wir brauchen so etwas nicht zu fürchten, und es ist auch nicht das, was mir Sorgen macht. Mir geht es um die Welt, in der wir uns bewegen. Da gibt es für die nächsten zwei Jahre feste Verpflichtungen, wie du weißt, und wir erhalten - beinahe täglich, wohlgemerkt! - Anrufe von Konzertagenturen und Musikdirektoren, die sich nach deinem Befinden erkundigen, weil sie wissen wollen, ob du deine Termine einhalten wirst. Geht es ihm schon besser?, fragen sie und meinen, sollen wir den Vertrag zerreißen oder steht das Programm?«
    Beim Sprechen zog mein Vater meine Zeichnung langsam immer näher zu sich heran, aber ich sagte nichts, obwohl er mit seinen Fingern die Linien verschmierte.
    »Ich habe jetzt eine ganz einfache Bitte an dich, Gideon«, fuhr er fort. »Geh nach oben ins Musikzimmer und nimm die Geige zur Hand. Du sollst es nicht für mich tun, um mich geht es nicht. Tu es für dich.«
    »Ich kann nicht.«
    »Ich bin doch bei dir. Ich werde neben dir stehen und dich stützen oder was du sonst willst. Aber du musst es tun.«
    Wir starrten einander an. Ich spürte, wie er mit aller Kraft versuchte, mir seinen Willen aufzuzwingen und mich dazu zu bewegen, aus dem Schuppen hinaus und durch den Garten ins Haus zu gehen.
    »Du wirst nie erfahren, ob du mit ihrer Hilfe Fortschritte gemacht hast, Gideon, wenn du nicht die Geige zur Hand nimmst und zu spielen versuchst.«
    Er sprach von Ihnen, Dr. Rose. Von den vielen Stunden, die ich damit verbracht habe, meine Erinnerungen aufzuschreiben. Von diesem Blättern in der Vergangenheit, das wir betreiben und bei dem er mir offenbar helfen wollte, wenn - wenn ich ihm nur zeigte, dass ich wenigstens im Stande bin, die Geige zur Hand zu nehmen und den Bogen über die Saiten zu ziehen.
    Ich sagte nichts, aber ich stand auf und ging aus dem Schuppen ins Haus. Im Musikzimmer trat ich nicht zur Fensterbank, wo ich fast immer beim Schreiben zu sitzen pflege, sondern zum Geigenkasten. Im Glanz ihrer Decke und ihrer Ornamente lag die Guarneri vor mir, ein Klangkörper, der in all seinen Teilen - Schalllöchern, Zargen, Wirbel - den Geist mehr als zweihundertjährigen Musizierens atmete.
    Ich kann es. Fünfundzwanzig Jahre lassen sich nicht mit einem Schlag auslöschen. Was ich gelernt habe, was ich kann, meine natürliche Begabung, das alles mag unter einem Erdrutsch verschüttet sein, aber es ist noch da.
    Mein Vater trat neben mich. Er legte leicht seine Hand an meinen Ellbogen, als ich nach der Guarneri griff. »Ich bin bei dir, mein Junge«, sagte er. »Es ist alles gut. Ich bin bei dir.«
    Und genau in diesem Moment klingelte das Telefon.
    Wie in einem Reflex verkrampften sich die Finger meines Vaters an meinem Ellbogen. »Geh nicht hin«, sagte er, und da ich schon seit Wochen das Telefon ignorierte, fiel es mir nicht schwer, ihm zu gehorchen.
    Aber es war Jill, die auf den Anrufbeantworter sprach. »Gideon?«, sagte sie, »ist Richard noch bei dir? Ich muss ihn dringend sprechen. Ist er schon wieder weg? Bitte, heb ab!«
    »Das Kind«, sagten Vater und ich wie aus einem Mund, und er lief zum Telefon.
    »Ich bin noch hier«, sagte er. »Ist bei dir alles in Ordnung, Schatz?«
    Ihre Antwort war kein kurzes Ja oder Nein. Während sie sprach, wandte sich mein Vater von mir ab. Dann sagte er: »Was für ein Anruf?«, und lauschte einer weiteren umständlichen Erklärung, bis er zum Schluss rief. »Jill - Jill, das reicht. Warum bist du überhaupt hingegangen?«
    Wieder folgte ein Redeschwall, und als Jill zum Ende gekommen war, sagte mein Vater: »Warte! Jetzt reg dich doch nicht so auf. Das ist doch albern. Du steigerst dich da in etwas hinein ... Du kannst mich doch nicht für einen Anruf verantwortlich machen, der -« Sein Gesicht

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