11 - Nie sollst Du vergessen
Sogar deine Mutter war damit einverstanden, obwohl sie völlig gebrochen war. Ja, ich kann mir gut vorstellen, dass du das alles aus deinem Gedächtnis streichen wolltest.«
Ich sagte mit trockenem Mund: »Dad hat mir erzählt, dass sie ertrunken ist. Sonia, meine ich. Dass sie ertrunken ist. Wieso gab es einen Prozess? Gegen wen? Und warum?«
»Mehr hat dein Vater dir nicht gesagt?«
»Nein. Er hat nur gesagt, Sonia sei ertrunken. Er wirkte so ... Er sah aus, als kostete es ihn schon ungeheuer viel, mir nur zu sagen, wie sie gestorben ist. Ich wollte nicht noch mehr Fragen stellen. Aber jetzt - ein Prozess? Vor Gericht?«
Raphael nickte, und noch bevor er fortfuhr, stürmte all das Erinnerte in seiner ganzen Tragweite auf mich ein: Virginia ist jung gestorben; Großvater hat »Episoden«; Mutter weint in ihrem Zimmer; jemand hat im Garten ein Foto gemacht; Schwester Cecilia ist im Vestibül; Dad brüllt, und ich bin im Wohnzimmer, trete mit den Füßen gegen die Sofabeine, stoße meinen Notenständer um, erkläre hitzig und voll Trotz, dass ich diese kindischen Tonleitern nicht spielen werde.
»Katja Wolff hat deine Schwester getötet, Gideon«, sagte Raphael. »Sie hat sie in der Badewanne ertränkt.«
28. September
Mehr sagte er nicht. Er machte einfach dicht, schaltete ab oder was immer Menschen tun, wenn sie die Grenze des Unaussprechlichen erreichen.
Als ich rief: »Ertränkt? Absichtlich? Wann? Warum?«, und spürte, wie das Entsetzen mit eisigen Fingern über meinen Rücken strich, sagte er: »Mehr kann ich dir nicht sagen. Frag deinen Vater.«
Mein Vater. Er sitzt auf der Bettkante und beobachtet mich, und ich habe Angst.
Wovor?, fragen Sie mich. Wie alt sind Sie, Gideon?
Ich muss noch klein sein, er wirkt so groß wie ein Riese, obwohl er doch in Wirklichkeit etwa die gleiche Statur hat wie ich heute. Er legt seine Hand auf meine Stirn - Und - fühlen Sie sich durch die Berührung getröstet?
Nein. Nein, ich schrecke vor ihr zurück.
Sagt er etwas?
Nein, zuerst nicht. Er sitzt nur bei mir. Aber dann legt er mir die Hände auf die Schultern, als glaubte er, ich würde aufzustehen versuchen, und wollte mich ruhig halten, damit ich ihm zuhöre. Und ich bleibe gehorsam liegen. Wir sehen einander an, und dann beginnt er endlich zu sprechen.
Er sagt: »Du brauchst keine Angst zu haben, Gideon. Dir kann nichts passieren.«
Wovon spricht er?, fragen Sie. Haben Sie einen bösen Traum gehabt? Ist er darum bei Ihnen? Oder geht es um etwas Schlimmeres? Katja Wolff vielleicht? Brauchen Sie vor ihr keine Angst zu haben? Oder liegt dieser Abend weiter zurück, Gideon, in einer Zeit, als Katja Wolff noch gar nicht bei Ihnen im Haus war?
Es waren Menschen im Haus, daran erinnere ich mich. Man hat mich unter Sarah-Jane Becketts Obhut in mein Zimmer geschickt. Sie redet und redet, sie hält endlose Selbstgespräche, ihre Worte sind nicht für mich bestimmt. Und während sie redet, läuft sie unaufhörlich hin und her und zerrt an ihren Fingerspitzen, als wollte sie sich die Nägel ausreißen. »Ich hab's gewusst«, sagt sie.
»Ich habe es kommen sehen. Diese verdammte kleine Hure!« Ich weiß, dass das schlimme Wörter sind, und das erschreckt und ängstigt mich, weil Sarah-Jane sonst nie schlimme Wörter gebraucht. »Hat gedacht, wir würden es nicht erfahren«, sagt sie.
»Hat sich eingebildet, wir würden es nicht merken.«
Was merken?
Ich weiß es nicht.
Vor meinem Zimmer höre ich Schritte. Jemand weint. »Hier! Hier drinnen!« Die laute Stimme meines Vaters. Sie ist kaum zu erkennen, so sehr ist sie von Panik verzerrt. Neben seinen lauten Rufen höre ich meine Mutter. »Richard!«, sagt sie. »O mein Gott, Richard! Richard!« Mein Großvater tobt, meine Großmutter jammert laut, und irgendjemand befiehlt, den Raum freizumachen.
»Alle hinaus, bitte! Den Raum freimachen.« Diese letzte Stimme ist mir unbekannt. Als Sarah-Jane Beckett sie hört, bleibt sie stehen, schweigt und wartet mit gesenktem Kopf hinter der Tür.
Dann höre ich weitere Stimmen - auch diese fremd. Jemand stellt eine Folge schneller Fragen, die alle mit dem Wort »Wie« beginnen.
Und Schritte, ein ständiges Hin und Her, irgendwelche Metallkästen schlagen auf den Boden, ein Mann blafft Anweisungen, andere Männer antworten kurz und angespannt, und irgendjemand ruft in diesem ganzen Durcheinander weinend: »Nein! Ich lasse sie nicht allein!«
Das muss Katja sein, sie sagt lasse statt ließ, wie das jemandem in einem Moment
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