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11 - Nie sollst Du vergessen

11 - Nie sollst Du vergessen

Titel: 11 - Nie sollst Du vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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verfinsterte sich plötzlich, und dann rief er: »Verdammt noch mal, Jill. Was redest du da! Das ist ja völlig irrational.« Ich kannte diesen Ton, den schlug er immer an, wenn er ein Thema vom Tisch fegte, das er nicht weiterverfolgen wollte. Ein eisiger Ton, wegwerfend und arrogant.
    Aber Jill war hartnäckig. Sie begann von neuem. Er hörte wieder zu. Er stand mit dem Rücken zu mir, aber ich sah, wie er stocksteif wurde. Es verging beinahe eine Minute, bevor er wieder sprach.
    »Ich komme jetzt nach Hause«, sagte er brüsk. »Am Telefon führe ich diese Diskussion nicht weiter.«
    Damit legte er auf, und ich hatte den Eindruck, Jill war mitten in einem Satz, als er es tat. Dann drehte er sich um und sagte mit einem Blick zu meiner Geige: »Du hast noch mal eine Gnadenfrist bekommen.«
    »Ist zu Hause alles in Ordnung?«, fragte ich.
    »Nichts ist in Ordnung«, antwortete er unwirsch.

26. September, 23.30 Uhr
    Zweifellos erzählte mein Vater Raphael, als er ihn unten auf dem Platz traf, dass ich nicht für ihn gespielt hatte; ich sah es Raphaels Gesicht an, als er keine drei Minuten später ins Musikzimmer kam. Sein Blick flog zu der Geige.
    »Ich kann nicht«, sagte ich.
    »Er behauptet, du willst nicht.« Raphael berührte behutsam das Instrument, das wieder in seinem Kasten lag. Es war eine Berührung wie eine Liebkosung, die er vielleicht einer Frau zugedacht hätte, wenn je eine Frau sich zu ihm hingezogen gefühlt hätte. Soweit mir bekannt war, hatte es das nie gegeben. Ja, mir schien, während ich ihn beobachtete, dass einzig ich - und meine Geige - Raphael vor einem Leben in völliger Einsamkeit bewahrt hatten.
    Es klang wie eine Bestätigung meiner Überlegung, als er sagte:
    »Das kann nicht ewig so weitergehen, Gideon.« »Und wenn doch?«, fragte ich.
    »Das wird nicht geschehen. Das darf nicht geschehen.«
    »Stellst du dich also auf seine Seite? Hat er dich da draußen aufgefordert« - ich wies mit einer Kopfbewegung zum Fenster - »mich zum Spielen zu zwingen?«
    Raphael blickte zum Platz hinaus, wo das Laub an den Bäumen sich herbstlich zu färben begann. »Nein«, sagte er, »das hat er nicht getan. Heute nicht. Ich hatte den Eindruck, er war mit anderen Dingen beschäftigt.«
    Ich wusste nicht, ob ich ihm glauben sollte, nachdem ich beobachtet hatte, mit welcher Erregung mein Vater auf ihn eingeredet hatte. Aber ich nutzte die Erwähnung »anderer Dinge«, um selbst auf andere Dinge zu sprechen zu kommen.
    »Warum hat meine Mutter uns eigentlich verlassen, Raphael?«, fragte ich. »War es wegen Katja Wolff?«
    »Das ist kein Thema, über das wir beide uns unterhalten sollten«, sagte Raphael.
    »Ich kann mich an Sonia erinnern«, sagte ich.
    Er griff zum Riegel des Fensters. Ich dachte, er wollte es öffnen, um entweder frische Luft hereinzulassen oder auf den schmalen Balkon hinauszuklettern. Aber er tat weder das eine noch das andere. Er machte sich nur ziellos an dem Riegel zu schaffen, und während ich ihm zusah, wurde mir bewusst, wie viel dieses sinnlose Gefummel über unsere Beziehung aussagte, in der keinerlei Interaktion stattfand, wenn es nicht um die Geige ging.
    »Ich erinnere mich wieder an sie, Raphael«, sagte ich. »Ich erinnere mich an Sonia. Und an Katja Wolff. Warum hat nie jemand von ihnen gesprochen?«
    Er schien unangenehm berührt, und ich glaubte, er wollte einer Antwort ausweichen. Aber gerade als ich sein Schweigen in Frage stellen wollte, sagte er: »Wegen dem, was Sonia zugestoßen ist.«
    »Wieso? Was ist Sonia denn zugestoßen?«
    Sein Ton klang verwundert, als er antwortete: »Du erinnerst dich wirklich nicht. Ich glaubte immer, du rührst nicht daran, weil wir anderen nie darüber gesprochen haben. Aber du weißt es nicht mehr.«
    Ich schüttelte den Kopf, voller Scham bei diesem Geständnis. Sie war meine Schwester gewesen, und ich wusste nichts von ihr, Dr. Rose. Bis zu dem Moment, als Sie und ich zusammen zu arbeiten anfingen, hatte ich vergessen, dass sie überhaupt existiert hatte. Können Sie sich vorstellen, wie man sich da fühlt?
    Raphael bemühte sich mit großer Güte um eine Entschuldigung für so viel grenzenlose Egozentrik, die mich meine Schwester hatte vergessen lassen. Er sagte: »Aber du warst ja damals noch nicht einmal acht Jahre alt. Und nach dem Prozess hat keiner von uns je wieder ein Wort darüber verloren. Wir haben schon während der Verhandlung kaum darüber gesprochen und vereinbarten, danach überhaupt nicht mehr daran zu rühren.

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