1103 - Das Azteken-Ritual
menschlicher Arm!
Er lag vor ihr am Boden, und er gehörte zu einem Menschen, der ihn ausgestreckt hatte. Die Person selbst war nicht zu sehen, denn sie lag im hohen Unkraut am Wegrand. Nur der Arm war zur Seite gestreckt und lag flach auf dem Weg.
Das Rad fiel zur linken Seite um, während sich Becky nach rechts drehte. Sie war leichenblaß geworden und fühlte sich in diesem Augenblick von einer schrecklichen Einsamkeit umfangen. Sie zitterte am ganzen Leib, der Schweiß war ihr aus allen Poren gedrungen. Sie fror und schwitzte zugleich, während sie sich bückte und das tat, was getan werden mußte. Sie war allein und würde es auch durchstehen.
Becky Flint bog das hohe Unkraut zur Seite, damit sie die Gestalt besser sehen konnte.
Den Schrei konnte sie nicht unterdrücken.
Den jungen Mann, der da vor ihr lag, kannte sie. Es war Eddy Cohan, ihr Helfer, der sich nicht gemeldet hatte, und es auch nicht mehr konnte, denn er war tot.
Gestorben auf eine besondere Art und Weise.
Ihm fehlte das Herz!
***
Insekten hatten sich in der Nähe versammelt. Sie krochen über das Gesicht des Toten, und es wurde auch von einigen Fliegen umschwärmt, die sich zudem nahe der Wunde aufhielten. Sie war von den Schnabelhieben des Vogels entstanden, sah sehr tief aus und wirkte innerhalb der Brust wie eine Mulde.
Becky mußte sich zwingen, etwas länger hinzublicken. So etwas hatte sie noch nie in ihrem Leben gesehen. Übelkeit stieg in ihr hoch. Das Gesicht des Toten sah verschmutzt aus. Es war auch von zahlreichen kleinen Bissen gezeichnet. Becky wünschte sich weit, weit weg. Sie wollte nicht mehr an diesem Ort bleiben, und sie sah nicht nur den Toten, sie dachte auch an den geheimnisvollen Fremden, der auf dem Gelände herumschlich.
Er mußte etwas mit dem Toten hier zu tun haben, auch wenn er sicherlich nicht das Herz aus dem Körper entfernt hatte. Es gab Helfer, eben den Geier, dem sie keinen Vorwurf machen konnte. Er war nur seinem natürlichen Instinkt gefolgt.
Mit unsicheren Schritten ging sie zur Seite, wäre beinahe in einen Busch gefallen und mußte sich übergeben. Sie spürte auch den Schwindel, gegen den sie nur mühsam ankam. Sie merkte, wie sich die Welt vor ihren Augen zu drehen begann, und sie hatte den Eindruck, als sollte sich der Boden öffnen, um sie zu verschlingen.
Becky hob ihr Bike hoch. Es war so schwer geworden. Sie hatte Mühe, es zu halten. Ihr war schwindlig, und sie merkte, wie ihre Knie zu zittern begannen. Noch war sie nicht in der Lage, die Fahrt fortzusetzen. Sie mußte erst mal zu sich selbst finden, dann wollte sie weiterfahren. Es ging mehr bergab, die Kurven waren eng. Da mußte sie schon fahrerisches Können aufbringen und sich sehr konzentrieren.
Also doch! schoß es ihr durch den Kopf. Es war auf dem Gelände passiert. Die Polizisten hatten im Prinzip recht, als sie in der Vogelwarte gesucht hatten. Hier oben waren sie nicht gewesen, aber sie wollten zurückkommen.
Ich muß sie anrufen, dachte Becky und überlegte gleichzeitig, daß sie sich noch Zeit damit lassen würde. Nicht sofort. Sie wollte erst warten, bis Derek aus London zurück war. Gemeinsam konnten sie dann eine Strategie besprechen. Sie würden den Leuten auch klarmachen müssen, daß sie beide mit dem Tod des Saisonarbeiters nichts zu tun hatten. Da war ein anderer der Mörder.
Nicht der Vogel. Er griff erst ein, wenn der Mensch schon tot war. Jemand mußte ihn zuvor umgebracht haben, und Becky glaubte, daß es der geheimnisvolle Fremde gewesen war, der sich vielleicht noch immer auf dem Gelände aufhielt und sich möglicherweise sogar in ihrer Nähe versteckte. Das machte ihr Angst.
Becky hielt sich am Rad fest. Ihre Knie waren noch zu weich. Sie wollte auch nicht auf den Toten schauen und blickte deshalb krampfhaft zur Seite.
Es war nicht gut, wenn sie sich noch weiter hier aufhielt. Unten gab es ein Telefon. Vielleicht war Derek zu erreichen, dann konnte er den Beamten gleich Bescheid geben und…
Schreie unterbrachen ihre Gedanken!
Es waren keine menschlichen Rufe. Menschen schrieen anders. Diese hier waren schriller, aber Becky auch bekannter.
Sie schaute zum Himmel!
»Nein, nein, das ist nicht möglich, das gibt es nicht…« Sie hätte vor Wut und Zorn schreien können, aber was sie sah, war keine Täuschung. Durch die Luft und in den immer klarer werdenden Himmel hinein bewegten sich die Vögel. Keine normalen. Weder Spatzen, Amseln, Krähen oder Elstern, nein, es waren ihre Tiere, die eigentlich in
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