1105 - Glendas Totenhemd
Funktionen noch war, im Gegensatz zu dem Knöchernen, der sich nicht aufhalten ließ.
Er ging nicht mehr so schwankend und hatte sich schnell an seine neue Umgebung gewöhnt. Es fehlten bei ihm der Mund und die Nase. In seinem verdammten Knochenschädel befanden sich die Löcher, an deren Innenrändern Dreck klebte.
Glenda wolle sich nicht vorstellen, was mit ihr passieren konnte, wenn der Knöcherne sie erreicht hatte. Er brauchte nur die Arme anzuheben und seine Knochenfinger um ihren Hals zu legen, um dann grausam zudrücken zu können.
Sie wurde an den skelettierten Briefträger erinnert, der sich Mr. Postman genannt hatte, um in einer Wohnsiedlung Angst und Schrecken zu verbreiten. Das war ebenfalls verdammt gefährlich gewesen, doch da hatte sich Glenda noch in der normalen Umgebung befunden, im Gegensatz zu hier, wo alles so schrecklich fremd war.
Sie überlegte noch, wie sie sich mit den Händen und Füßen verteidigen konnte, als das Skelett vor ihr stehenblieb.
Jetzt, dachte sie, jetzt greift es mich an! Die Vorstellung sorgte für einen erneuten Schweißausbruch, aber es kam anders als sie es sich gedacht hatte.
Der Knöcherne kippte auf sie zu.
Glenda Perkins erschrak. Automatisch streckte sie ihre Arme vor, um die Gestalt abfangen zu können. Die Hände umfaßten die blanken Knochen, und Glenda wollte die Gestalt wieder von sich stoßen, aber der Knöcherne war auf einmal schwer geworden. Er drückte sie zurück, so daß Glenda mit dem Rücken gegen die schräge Innenseite der Mauer fiel.
Der Knöcherne folgte der Bewegung. Er war bei ihr und wollte auch bei ihr bleiben. Wie ein Liebhaber schwang er die Arme vor, um die Dame seines Herzens zu umfangen.
Glenda konnte nicht anders. Sie mußte es zulassen und griff selbst zu, als die Gestalt aus dem Grab einen Drall erhielt und nach links kippte.
Plötzlich lag das Skelett auf ihren Armen wie ein Kind, das von seiner Mutter beschützt wird.
Glenda konnte nicht glauben, was sie erlebte. Sie hielt den Körper fest. Wenn sie nach links schaute, dann starrte sie automatisch in das häßliche Gesicht mit den Löchern. Der Mund stand weit offen.
Da schien der letzte Schrei noch in seiner Kehle zu stecken. Die Arme baumelten an den Seiten herab, die Finger hingen ebenfalls nach unten. Der Brustkorb bestand nur noch aus gebogenen Knochen, die allerdings von einer starken Kraft zusammengehalten wurden.
Fünf, sechs Sekunden waren vergangen, in denen sich Glenda nicht bewegte. Sie brauchte diese Zeit einfach, um erfassen zu können, was hier passiert war.
Dann, als die Zeit herum war, kam es ihr plötzlich in den Sinn. Es war auch der Punkt erreicht, an dem sie sich nicht mehr beherrschen konnte. Aus ihrer Kehle drang der Schrei, der über den Friedhof und auch noch darüber hinweg gellte.
Der Bann war gebrochen.
Sie hob das Skelett an und schleuderte es mit aller Kraft gegen die Mauer…
***
Glenda starrte auf die Knochen!
Die krachenden und knirschenden Laute, die beim Aufprall entstanden waren, tobten noch in ihren Ohren. Es war für sie der reine Wahnsinn gewesen, aber auch ein Akt der Selbstverteidigung. Sie hatte einfach nicht mehr gekonnt. Irgendwie war der Filmriß dann erfolgt, und sie fühlte sich nicht einmal als Siegerin, als sie auf die Reste starrte, die an der schrägen Mauer entlang nach unten gerutscht waren.
Die Gestalt war zerbrochen, zersplittert - einfach tot, wenn man das überhaupt sagen konnte. Glenda war auch nicht in der Lage, sich darüber Gedanken zu machen, sie mußte es hinnehmen und fragte sich zugleich, ob sie nicht etwas falsch gemacht hatte.
Das Skelett war auf sie zugekommen, aber es hatte sie nicht angegriffen. Wenn sie jetzt im nachhinein darüber spekulierte, dann kam ihr sogar der Gedanke, daß es erschienen war, um ihr zu helfen.
Doch das hatte sie in ihrer Lage nicht nachvollziehen können. Jetzt allerdings sahen die Dinge anders aus.
Ein Stöhnen wehte in ihrer Nähe über den Friedhof hinweg. Glenda mußte schon genau hinhören, um zu erfassen, daß sie es war, die das Geräusch ausstieß.
Es gab keinen heilen Knochen mehr. Sie hatte die Gestalt mit aller Kraft gegen die Mauer geschleudert, und selbst der bleichgelbe Schädel war zersprungen. Die obere Hälfte mit den struppigen Haaren lag dicht neben ihrem linken Fuß.
Glenda schloß die Augen. Sie konnte einfach nicht mehr hinschauen. Die letzten Sekunden - oder waren es Minuten? - kamen ihr wie ein böser Traum vor, der noch lange nicht beendet
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