1105 - Glendas Totenhemd
war, das wußte sie auch. Das Erscheinen des Skeletts war möglicherweise nur ein Beginn gewesen. Wie konnte sie wissen oder ahnen, was noch alles in der Erde des alten Friedhofs lauerte?
Sie drehte sich wieder um. Automatisch beschäftigten sich ihre Gedanken mit Flucht, aber sie wußte nicht, wohin sie laufen sollte. Es gab keinen Ausgang, keinen Eingang, zumindest keinen normalen.
Es gab nur diesen einsamen und düsteren Friedhof, der zu schaurigem Leben erweckt worden war.
Und das Leben war nicht vernichtet worden. Es blieb, es hielt Kontakt mit der Besucherin, die nicht glauben wollte, was sie jetzt zu sehen bekam.
Mit weit aufgerissenen Augen ließ sie ihre Blicke über den Friedhof gleiten. Bewegte sich die Erde?
Zitterten die Grabsteine? Bildete sie sich alles nur ein? Spielten ihr die überreizten Nerven etwa einen Streich? Es war einfach schrecklich. Der Friedhof lebte plötzlich und ließ dieses Leben auch frei.
Unter dem noch immer auf dem Boden liegenden schwachen Licht zeichneten sich erste Risse und Lücken ab. Die Kraft erfaßte auch die Grabsteine. Nicht weit von ihr entfernt sackten zwei der größten zusammen und verschwanden zu einem Drittel im Erdreich. Sie kippten nicht, aber sie blieben schief stehen, und die Bewegungen des Bodens setzten sich fort.
Längs- und Querrisse trafen sich und bildeten an den Schnittpunkten größere Lücken, die zu Löchern im Boden wurden, so daß die versteckten Kräfte freie Bahn erhielten.
Sie stiegen hoch.
Geister - Nebelgeister. Geheimnisvolle Tücher. Mal dünner, mal dicker oder fester. Zitternde Gestalten, die noch keine konkreten Formen hatten. Die sich über den Boden drehten wie etwas, das nach seiner Identität suchte.
Glenda erinnerte sich daran, daß sie auf dem Friedhof der Engel stand. Jetzt fragte sie sich, ob die Erde die Totengeister der Engel entlassen hatte. Auf der anderen Seite hielt sie es für unmöglich, denn Engel waren selbst Geister und konnten keine Geister bilden.
Das Wort »unmöglich« zu sagen, das hatte sie sich abgewöhnt. Da war sie schon dem Ratschlag des Geisterjägers gefolgt. Zum erstenmal merkte Glenda auch körperlich die neue Veränderung. Was da aus der Erde stieg, das brachte eine gewisse Kühle mit sich, die auch in einem Grab herrschen mußte.
Über ihr Gesicht strich sie hinweg. Die Hände, den Nacken. Die kroch an ihrem nackten Rücken entlang, weil sie den Schein, der sie umgab, durchdrungen hatte.
Oder bildete sie sich den Schein nur ein? Mußte er sein, um sie als lebende Person im Reich der Toten überhaupt existieren zu lassen?
Die Geister aus den alten Gräbern taten ihr nichts. Noch waren sie mit sich selbst beschäftigt, um ihren zitternden Ausmaßen eine Form zu geben.
Sie teilten sich auf.
Alles folgte bestimmten Gesetzen. Es schwankte auch kein Grabstein mehr. Die helle Nebelmasse wirkte zerrissen. Verschieden große Fahnen wehten über den Friedhof hinweg und glitten lautlos an Glenda vorbei, die dann den Kälteschauer besonders intensiv spürte. Eine Nebelbank verharrte für einen Augenblick dicht vor ihr, so daß Glenda sie genau sehen konnte.
Sie wollte schon zugreifen, doch sie riß sich im letzten Augenblick zusammen und zog die Hand wieder zurück. Außerdem glaubte sie, innerhalb dieses Nebels etwas gesehen zu haben, das sogar an ein Gesicht erinnert hatte.
Die Insel trieb weiter…
Glenda blieb zurück. Sie folgte dem Nebelhauch mit ihren Blicken, der sich lautlos auf einen Grabstein setzte und die breite Kante für sich einnahm.
Es blieb nicht der einzige Platz. Jedes durch die Luft schwimmende Nebelteil suchte sich einen Grabstein aus, um sich dort niederlassen zu können.
Glenda wollte nachzählen, wie viele es waren, aber sie war einfach zu aufgeregt, denn die Nebelflecken blieben nicht mehr so wie sie waren.
Sie gerieten in Bewegung. Wieder drehten sie sich. Das passierte auf der Stelle, und aus den amorphen Schleiern wurden Gestalten. Da bildete sich etwas zurück.
Bisher waren sie Geister gewesen, doch das blieben sie nicht mehr. Der Nebel verdichtete sich immer stärker. Das eigentlich helle Grau nahm an Intensität zu. Es bekam eine andere Farbe, und zugleich verhärteten sich die Figuren.
Bei jeder von ihnen schien ein Schöpfer mit modellierenden Händen zu stehen. Die Gestalten glichen plötzlich wie ein Ei dem anderen. Ob groß, ob klein, geduckt oder gestreckt, sie waren und blieben gleich.
Graue Figuren aus Stein!
Glenda erlebte etwas, das sie nicht fassen
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