1117 - Herr über Leben und Tod
Sarah dachte über den Klang nach.
Er hatte sich anders angehört als der, der entsteht, wenn man gegen eine Tür pocht.
Sie bekam Furcht. Um sie herum sah sie Schatten tanzen, die sich bewegten wie lautlose Wellen. Sarah wischte über ihre Augen, und die Schatten verschwanden.
Dafür klang das Klopfen wieder auf. Und diesmal wusste sie sofort Bescheid. Es war nicht gegen die Haustür geklopft worden, sondern gegen die Scheibe. Und zwar gegen die des Küchenfensters.
Lady Sarah wollte eigentlich nicht hingehen. Ihre Gäste meldeten sich anders an, aber sie spürte plötzlich den Drang, der es ihr unmöglich machte, stehen zu bleiben.
Erst als sie das Geräusch zum dritten Mal wahrnahm, setzte sie sich in Bewegung.
Die Küche war leer. Sie sah auch keine Schatten, die sie irritiert hätten. Dafür entdeckte sie jenseits der Scheibe das Gesicht des Mannes. Er war durch den Vorgarten gekommen und hatte sich von außen dicht an das Fenster gestellt.
Sarah Goldwyn war in der Lage, jede Einzelheit wahrzunehmen.
Sie hatte das Gesicht noch nie zuvor gesehen, aber es klebte hinter der verdammten Scheibe wie ein Abdruck. Graues Haar, ein Bart, dunkle Augen, die starr auf sie gerichtet waren. Der Mann trug ein Gewand und erinnerte sie beim ersten Hinschauen an einen Beduinen, der sich verlaufen hatte.
Der Mann lächelte, als Sarah stehen blieb. Dann bewegte er seinen rechten Arm und deutete mit dem abgespreizten Daumen in eine bestimmte Richtung.
Zu sagen brauchte er nichts. Sarah wusste auch so, was er von ihr verlangte. Sie wunderte sich nicht einmal darüber, dass sie sich einfach abdrehte und genau tat, was der Mann verlangte. Sie ging in den schmalen Flur hinein und dann auf die Haustür zu. Von innen war sie abgeschlossen. Sarah drehte den Schlüssel zweimal und öffnete die Tür weit, damit der Mann eintreten konnte.
Er war ein Fremder, den Sarah noch nie im Leben gesehen hatte.
Trotzdem kam er ihr bekannt vor. Es war eine Gestalt, wie sie nur in düsteren Träumen entstehen konnte und die es jetzt geschafft hatte, diese Träume zu verlassen.
Sarah wartete, bis der Fremde ihr Haus betreten hatte und einige Schritte in den Flur hineingegangen war. Erst danach schloss die Horror-Oma die Tür. Noch immer stand sie unter dem Bann dieser düsteren Person und kannte sich selbst nicht wieder. Normalerweise hätte sie nie einen Fremden so locker ins Haus gelassen, doch hier war es anders. Ihr war überhaupt nicht in den Sinn gekommen, ihn draußen stehen zu lassen.
Seine Augen – ja, es waren seine Augen, denen sie nicht entgehenkonnte, Sie spürte die Blicke selbst dann, als er sie nicht anschaute, und als er eine Hand auf ihren Arm legte, blieb sie sofort stehen, um wieder in sein Gesicht zu blicken.
Es war düster. Es war schattig. Vielleicht auch bedingt durch den dunklen Bart. Die vollen Lippen hatten sich zu einem Lächeln verzogen, und Sarah merkte, wie ihre Knie weich wurden. Beinahe wie bei einem verliebten jungen Mädchen.
»Wir sind allein?« fragte er.
Die Horror-Oma antwortete wie unter Zwang. »Ja, wir sind allein im Haus.«
»Das ist gut.«
»Wieso?«
»Da haben wir Zeit, Vorbereitungen zu treffen. Du wirst bald Besuch bekommen, alte Frau. Ich weiß es genau. Und ich werde dich jetzt darauf vorbereiten.«
»Wer kommt?«
»Eine Bekannte, alte Frau. Eine gute Bekannte und Freundin, die leider nicht mehr so nett ist. Das weiß ich genau. Deshalb sollten wir beide die entsprechenden Vorbereitungen treffen. Hilfst du mir?«
Lady Sarah konnte nicht anders. Sie musste ihn einfach anschauen und ihm in die Augen sehen. Das war wie ein Zwang. »Ja, ich werde dir helfen. Aber wer bist du?«
»Veritas…«
Etwas regte sich in Sarahs Kopf. Der Name sagte ihr etwas, nur kam sie nicht darauf, wann und in welchem Zusammenhang sie ihn gehört hatte.
»Ich bin die Wahrheit. Ich will nur immer die Wahrheit erfahren. Dafür kämpfe ich. Ich bin zugleich der Herr über Leben und Tod, so dass die Menschen mir gehorchen müssen. Auch du!«
Sarah wollte sich nicht beeinflussen lassen. Das Unterbewusstsein merkte, dass etwas Schlimmes mit ihr passierte. Sie holte Luft, um den Mann anzusprechen, aber mit ihm geschah etwas, das auch Sarah nicht beeinflussen konnte.
Sie erlebte die Veränderung auf seiner Stirn. Sie war sehr breit, und direkt in der Mitte veränderte sich die Haut. Von verschiedenen Seiten schienen unsichtbare Finger daran zu zupfen, um sie zu den Seiten hin zu zerren. Die Haut spannte sich an
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