112 - Der tägliche Wahnsinn
praktisch sind, von den Hauseigentümern aber oft als störend im Fassadenbild empfunden werden. Im Notfall müssen die dann womöglich etwas länger auf Hilfe warten.
Steffen fand das Ziel als Erster. Doch als wir dort klingelten, öffnete uns niemand. «Seltsam. Der Anrufer hatte aber doch diese Adresse angegeben. Und auf der Klingel steht auch der Name, wir können also nicht verkehrt sein», wunderte ich mich.
Steffen machte ein paar Schritte rückwärts, um das gesamte Haus in Augenschein zu nehmen: «Da ist aber auch alles dunkel. Da stimmt was nicht.»
Steffen rief die Leitstelle an, die über den Einsatzleitrechner eine Anfrage an das Melderegister machte. Etwas irritiert beendete er das Telefonat: «Unter dieser Adresse sind zwar die Frau Schöller und der Sohn gemeldet, aber den Mann, der angerufen hat, konnten sie über die Rufnummernidentifizierung an einer anderen Adresse lokalisieren. In der Ottostraße 6 . Und nun?»
«Vielleicht ist die Frau bei ihm», rätselte ich. «Immerhin ist hier, so wie es aussieht, niemand zu Hause. Lass uns mal in die Ottostraße fahren. Einfach wieder zum Standort zurückfahren, da wäre mir nicht ganz wohl dabei.»
Also stiegen wir in den RTW und fuhren die nächste Adresse an, die ebenfalls in unserem Wachbereich lag. Die Hausnummer 6 war ein Hochhaus. Den Namen des Anrufers fanden wir zwischen Dutzenden von Klingelschildern. «Das muss im dritten Stock sein. Jetzt bin ich ja gespannt», sagte ich.
«Da oben brennt in einer Wohnung auch noch Licht», bemerkte Steffen.
Der Türsummer ging, nachdem wir geklingelt hatten. Mit dem Fahrstuhl fuhren wir in den dritten Stock hinauf. An einer Wohnungstür empfing uns ein etwas übergewichtiger Mann in den Sechzigern in Motorradkleidung (nachts um mittlerweile fast zwei Uhr!) und schickte uns durch die gepflegte Wohnung ins Wohnzimmer.
«Sehen Sie», erklärte er, «sie sitzt schon die ganze Zeit da und spricht nicht. Das ist doch kein Zustand!» Er deutete auf das Ecksofa – wo allerdings niemand saß. Auf dem Polstermöbel stapelten sich lediglich einige Sofakissen und eine große Nackenrolle, zur Hälfte mit einer Wolldecke zugedeckt. An dieser zupfte der Herr jetzt vorsichtig herum und sagte: «Die hat auch irgendwie keine Gliedmaßen. Erklären Sie mir das doch mal bitte!»
Der Mann glaubte, die Kissen wären seine Frau, die dort auf dem Sofa saß. Bei der weiteren Befragung bekamen wir heraus, dass er seit etwa neun Jahren von ihr und ihrem Sohn getrennt lebt.
Auf alles Mögliche wird man in der Ausbildung vorbereitet: Gerätemanagement, Reanimation und Amputatversorgung. Aber auf eine imaginäre Frau ohne Arme und Beine? Da ergibt die Suche im Oberstübchen leider keinen Treffer.
Ich tastete mich behutsam vor: «Hören Sie, wir haben jetzt ein Problem, Ihre Frau sitzt dort nicht auf dem Sofa.» Ich ging zu dem Stapel Kissen, faltete vorsichtig die Decke zusammen und legte die Kissen langsam auseinander. Den Mann behielt ich dabei im Auge, um zu sehen, ob er sich gefallen ließ, dass der Rettungsdienst «seine Frau» auseinandernahm. «Das sind nur Kissen, die hier gestapelt sind. Sehen Sie? Ich glaube, Sie haben da im Halbdunkeln etwas Verkehrtes wahrgenommen.»
Er schien nun zu begreifen, dass er wohl einem Trugbild aufgesessen war. «Ja, ja, jetzt sehe ich das auch … Das ist mir aber peinlich! Ich weiß nicht, wie das passieren konnte.»
Steffen schaute immer noch verdutzt die Kissen an. Ich baute dem Fan von Motorradkleidung eine Brücke: «Womöglich sind Sie im Halbschlaf zur Toilette gegangen und haben die Umrisse verwechselt. Hatten Sie vor dem Notruf schon geschlafen?»
Er stimmte mir zu. «Ja. Und dann habe ich Sie gerufen und mich angezogen. So muss es gewesen sein. Richtig. Wissen Sie, ich muss ja auch so starke Medikamente gegen mein Parkinson nehmen, da kann das schon mal passieren. Ist mir sehr unangenehm.» Der etwas zerknirschte Mann versprach uns, so bald wie möglich zum behandelnden Neurologen zu gehen, um die Medikamentendosis anpassen zu lassen.
Einsatzende.
Dachten wir.
Am Morgen um halb acht tauchte derselbe Mann auf seinem Motorrad im Krankenhaus an der Wache auf und teilte der Frau am Empfang mit, er müsse dringend einen Arzt sprechen, seine Frau würde bewusstlos zu Hause liegen. Die Frau rief sofort die Feuerwehr an, und als das Gespräch beendet war, spazierte der Motorradfahrer wieder zu seinem Gefährt und fuhr einfach weg.
Die Adresse auf den Meldern, die einen Moment
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