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112 - Der tägliche Wahnsinn

112 - Der tägliche Wahnsinn

Titel: 112 - Der tägliche Wahnsinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Behring
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Er sprach den Mann deshalb auch etwas barsch an: «Hey! Was’n los? Aufstehen! Eben bist du doch noch gelaufen?» Aber der Angesprochene ließ sich trotz des Tonfalls nicht davon abhalten, weiter selig zu glucksen und vor sich hin zu murmeln. Er war dieser Welt völlig entrückt.
    Dennoch mussten wir Kontakt zu ihm aufnehmen. Im besten Fall sollte er uns ein paar Fragen beantworten, damit wir im Bilde waren, was er denn hier so ohne Schuhe überhaupt machte. Bei Betrunkenen funktioniert eine solche Kontaktaufnahme gut, wenn man sie etwas «ärgert» und ihnen ein bisschen wehtut, sollte An-der-Schulter-Rütteln nicht reichen. Viele wollen nämlich einfach nur in Ruhe gelassen werden und haben die Hoffnung, dass wir wieder verschwinden, wenn sie sich tot stellen. Je nach Witterung oder Örtlichkeit ist das aber nicht möglich. Also «ärgerte» Steffen den Ausfahrtsokkupanten, indem er ihm mit den Fingerknöcheln leicht auf dem Brustbein rieb. Das ist ungefährlich, aber äußerst unangenehm, und man bekommt die meisten Schläfer damit wach. Auch dieses Mal klappte es. Der Typ reagierte. Das Brustbeinreiben legte bei ihm einen Schalter um, denn er fing plötzlich an zu schreien und zu zetern:
«
Ey! Lasst mi in Ruh, ihr Arrrschlöcher! I muss no wachsen! Lasst mi in Ruhe wachsen! Teufel! Teufel! Ihr seid dreckert!»
    Mit letzterer Formulierung war mehr als klar, dass der junge Herr einer Bevölkerungsgruppe aus dem Alpenraum entstammte. Zudem waren jetzt die letzten Zweifel beseitigt, dass er, sagen wir, psychisch beeinträchtigt war, da seine Schimpftiraden absolut keinen Sinn ergaben. Im nächsten Moment sprang er sogar recht munter auf. Und obwohl wir alle – immerhin waren wir zu sechst – sofort etwas Abstand nahmen, ging er auf uns los, schlug um sich, trat und brüllte zusammenhangloses Zeug.
    Da der Patient jetzt völlig ausrastete und unter Absonderung eines zunehmend kryptischen Wortsalats uns immer weiter attackierte, entschieden wir nach etwa zehn verdammt langen Sekunden, uns geschlossen auf ihn draufzuschmeißen und ihn am Boden zu fixieren, damit er weder sich noch uns verletzte. Und vor allem nicht auf die nächste Kreuzung rannte.
    Die Lage war aufgrund der ungleichen Kräfteverteilung schnell geklärt. Ihm blieb lediglich eine Chance, um sich zu befreien. Er hätte dazu Steffen in den Oberschenkel beißen müssen. Glücklicherweise bemerkten wir seine Absicht schnell genug, sodass mein Kollege gerade noch rechtzeitig sein Bein aus der Schusslinie bringen konnte. Was wir außerdem bemerkten: Sein T-Shirt rutschte beim Handgemenge hoch, und es blitzten ein paar EKG -Klebeelektroden auf seiner nackten Brust hervor. Aha, der Mann war also aus einem Krankenhaus stiften gegangen.
    «Wir brauchen die Polizei für eine Ordnungsverfügung», überlegte Steffen laut.
    «Der braucht keine Polizei», sagte ich, «der braucht einen Exorzisten, so besessen wie der ist. Soll ich mal zur Kirche rüberlaufen?»
    «Nee», flachste Steffen zurück, wobei ihm vom Fixieren des zappelnden und wütenden Süddeutschen der Schweiß auf die Stirn trat. «Dann sollte der Notarzt kommen. Ohne Beruhigungsmittel können wir den Mann nicht transportieren. Bestell mal bei der Leitstelle einen Mediziner.»
    Da auch fünf Männer reichten, um den Patienten am Boden zu halten, lief ich zum Rettungswagen, drückte am Funkgerät die Taste für den «dringenden Sprechwunsch» und gab der Leitstelle einen kurzen Überblick durch:
«
Wir haben eine gewalttätige, psychisch auffällige Person, die greift uns an. Wir brauchen Polizei und einen Arzt. Das Löschfahrzeug der Wache 3 ist erst mal nicht verfügbar, die Besatzung rollt sich mit dem Pat.» «Pat» ist im dienstlichen Sprachgebrauch die Abkürzung für «Patient».
    «Okay, ich schicke euch was», kam es von der Leitstelle über Funk zurück.
    Die fünf Kollegen fixierten weiter den tobenden Patienten, der nicht aufgab, nach allem zu treten und zu beißen, was sich ihm bot. Kämpferisches Volk eben, diese Eingeborenen am Fuße der Alpen.
    Kurze Zeit später hatten sich zwei Polizisten, die aufgrund der Anforderung durch unsere Leitstelle zu Fuß von der nahen Wache herübergeschlendert waren, in die Kampfarena begeben und beaufsichtigten nun interessiert, aber doch aus einigem Abstand die sich im Knäuel rollenden Kollegen. Ein Streifenwagen tauchte nach etwa zwei Minuten auch noch auf, und der Streifenführer stellte seinen bereits anwesenden Kollegen die naheliegende Frage,

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