1124 - Aus dem Reich der Toten
denn auf diesen Mittelpunkt konnte ich gut und gerne verzichten.
Der Nachtwind hatte nicht aufgefrischt. Es waren kaum Geräusche zu hören. Hin und wieder mal ein leises Rascheln oder Schaben, das war auch schon alles.
Aber war ich wirklich allein?
Ich wußte es nicht. Auch mein Kreuz zeigte keinerlei Anstalten, zu reagieren. Je länger ich allerdings vor dem Grab stand, um so mehr verdichtete sich der Eindruck, daß dem nicht so war.
Etwas lauerte auf mich.
Ich dachte an die Warnungen der beiden Frauen. Sie glaubten daran, daß Lalibelas Diener nicht aufgegeben hatten. Und gab es eine idealeren Ort für einen Angriff auf mich als dieser Friedhof?
Bestimmt nicht.
Ich drehte mich um.
Mein Blick fiel auf die Mauer. Auch sie lag unter dieser Glocke der Stille. In der Nähe standen Bäume, deren dünne Zweige traurig nach unten hingen.
Ein Eichhörnchen huschte in meiner Nähe entlang und kletterte einen Baumstamm hoch. Sogar das Kratzen der Krallen hörte ich. Danach war es wieder still.
Ich wußte nicht, was ich noch unternehmen sollte. Es konnte auch alles falsch gewesen sein, mußte aber nicht. Ich war jetzt allein und bestimmt eine sichere Beute für die Engel des Lalibela.
Wieder verstrichen die Sekunden. Kein Vogel flog. Sie alle hatten sich längst zum Schlafen in ihre Plätze in den Bäumen zurückgezogen und hockten wie gefiederte Aufpasser über den Gräbern.
Noch einmal stellte ich mir den Killer mit der Kettensäge vor. Aber nicht mit dem Aussehen meines Vaters. Ich erinnerte mich daran, wie er vergangen war, als die Säge ihn durchschnitten hatte.
»John…«
Ich hatte mit diesem dünnen Totenruf nicht gerechnet und zuckte zusammen, als ich meinen Namen hörte. Eine Stimme war es gewesen. Nur hatte ich nicht herausfinden können, ob sie männlich oder weiblich gewesen war. Sie hatte neutral geklungen, wie aus dem Reich der Toten stammend.
Ich tat nichts.
Über meinen Rücken rieselten zwei kalte Schweißperlen. Meine Augen waren in Bewegung. Ich schaute mir die Gräber zu beiden Seiten an, doch dort passierte nichts.
»John…«
Wieder dieser klagende Laut, und jetzt wußte ich auch, woher mich der Ruf erreicht hatte.
Er war hinter dem Grab meiner Eltern aufgeklungen. Ich schaute über den Grabstein hinweg, ohne jedoch etwas erkennen zu können. Keine Gestalt, kein Mensch, kein Geist oder wie auch immer.
Nur dieser Ruf schien zäh in der Luft zu liegen.
Ich hatte mich entschieden und ging um den Grabstein herum, ohne dabei das Grab zu betreten. Es mußte etwas zu sehen sein. Entweder ein Mensch oder ein Geist.
Nach wenigen Schritten schon stoppte ich auf dem Parallelweg. Ich hatte mich leicht gereckt, um eine bessere Sicht zu haben, und plötzlich sah ich die Gestalt. Sie winkte mir heftig zu, ich hörte sogar ein Lachen, was die Spannung wohl mildern sollte.
Bei mir war das nicht der Fall.
Vorsichtig bewegte ich mich auf die Gestalt zu. Sie war deshalb so gut zu erkennen, weil sie helle Kleidung trug. Aber hell waren auch Totenhemden.
Nach zwei weiteren Schritten blieb ich stehen. Die fremde Gestalt stand neben einem mächtigen Baum, dessen Stamm sich zu einer Gabel verzweigte.
Ich kannte sie nicht, aber ich sah, daß sie eine braune Haut hatte. Es war wirklich seltsam. So sah kein Toter aus, aber als einen normalen Menschen wollte ich diese gespenstische Erscheinung auch nicht betrachten.
Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
Ja, ich wußte, wer die Gestalt war.
Lalibela hatte nicht seine Helfer auf den Friedhof geschickt, er war selbst aus dem Reich der Toten gekommen…
***
»Warum hast du John nicht zurückgehalten?« In Noras Stimme klang der Vorwurf durch.
Janine Helder schüttelte leicht den Kopf. »Vergiß nicht, daß er alt genug ist und auf sich selbst achtgeben kann. Wir haben ihn gewarnt. Das war wichtig.«
Nora Thorn war nicht davon überzeugt. »Er kann nicht gegen Lalibela gewinnen. Als Mensch ist er zu schwach. Lalibela ist wie der Tod. Er erscheint, schlägt zu und verschwindet. Und ich glaube auch nicht, daß er allein ist.«
»Falls er selbst erscheint«, sagte Janine.
»Ja, das wird er. Und es beunruhigt mich. Ich hätte nicht gedacht, daß er mir so sympathisch werden würde. Er hat Doreen getötet, ich hatte ihn auch gehaßt deswegen, aber jetzt weiß ich, daß es getan werden mußte. Wir sind ja beide so unterschiedlich gewesen, das weißt gerade du, Janine.«
Die ältere Frau lächelte. »Und ob ich das weiß. Doreen war ein Zwitter.
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