114 - Sylphidas Rachegeister
stieg, »wird sich
rächen ... Der Tod wird einziehen ... Die Menschen haben Tirn Aill - die >andere Welt< - entweiht. Von dort
wird sie ihre Rachegeister schicken und grausam richten. Die Welt der Menschen
und der Geister muß scharf getrennt bleiben ... Warum hat er das getan? Ich
weiß jetzt, wo ich war - und was geschehen muß, um die Dinge wieder ins Lot zu
bringen. Jeden Tag wird aus einem der Häuser von Navan ein Sarg getragen werden .«
Mit diesen Worten wandte die Gestalt den
Kopf, machte zwei schnelle Schritte zur Seite und verschwand zwischen den
Bäumen in Dunkelheit und Nebel.
Andy Reef warf sich nach vorn.
Alles an ihm war gespannte Aufmerksamkeit.
»Shawn Reef !« brüllte er. »Bleib stehen, geh nicht fort! Ich habe noch viele Fragen an dich
...«
Er hörte, wie Zweige knackten, das Rascheln
des faulenden Laubes.
Der Davonlaufende reagierte nicht auf den
Ruf.
Andy Reef preschte zwischen den Bäumen
entlang, schlug sich durch Büsche und Unterholz, das sich jenseits der Straße
ausbreitete.
Hier zwischen den Bäumen war es noch düsterer
als draußen auf der Straße, die Nebelschwaden, die wie gespenstische Lebewesen
zwischen den Stämmen und Zweigen entlangwaberten, waren dichter.
Andy Reef starrte in die trübe Luft vor sich.
Er nahm die Umrisse der Gestalt nicht mehr
wahr, aber er hörte die dumpfen Schritte auf dem Waldboden.
Nach den Geräuschen richtete er sich.
Wohin lief Shawn Reef? Und - warum lief er
überhaupt weg?
Der Maler versuchte vergebens, einen
logischen Sinn zu finden. Hier schien überhaupt nichts mehr zusammenzupassen.
Andy Reef lief kreuz und quer durch den Wald.
Einmal nur warf der Verfolger einen Blick
zurück, wobei er diffuses Licht zwischen den Stämmen wahrnahm. Die
Autoscheinwerfer brannten demnach wieder in voller Stärke. Daß sie kurzfristig
kaum noch richtiges Licht abgegeben hatten, mußte mit
der erneuten Geistererscheinung Zusammenhängen, die er hatte.
Im Gegensatz zu der Gestalt in der vorletzten
Nacht vor seinem Haus war diese offensichtlich nur ein Geist. Davor war sie
stofflich gewesen, war zerfallen und hatte eine mehlfeine, staubige Materie
hinterlassen.
War Shawn Reef nach seiner mehr als
hundertfünfzigjährigen Abwesenheit nun dazu verdammt, als Geist ruhelos durch
Diesseits und Jenseits zu schweifen?
Andy Reef wollte unbedingt Licht ins Dunkel
der Geheimnisse bringen und jagte immer den sich entfernenden Schritten nach,
in der Hoffnung, den Fliehenden einzuholen.
Angst, sich zu verirren, hatte er nicht.
Er war hier auf gewachsen und kannte jeden
Fußbreit Boden.
Er würde immer wieder zurückfinden.
Er wußte auch, in welche Richtung er sich
bewegte.
Der Boden stieg leicht bergan.
In dieser Gegend, nur einige hundert Meter
von der nach Navan führenden Straße entfernt, lag das alte Castle des Lord of
Gloghtonny.
Es stammte aus dem 12. Jahrhundert und wurde
von den Nachkommen der einstigen Herren über dieses Land in Schuß gehalten. Die
of Gloghtonnys waren finanziell unabhängig. Irgendwann in ihrer Geschichte
waren sie zu Ansehen und Reichtum gekommen, ein Reichtum, der heute noch
anhielt. Dies bewiesen der Erhaltungszustand des Castle und die drei Autos im
Wagenpark des derzeitigen Herrn von Gloghtonny. Es waren ein Rolls-Royce, ein
Bentley und ein schneeweißer Cadillac. Manchmal konnte man in dem einen oder
anderen Wagen den Lord oder die Lady spazierenfahren sehen. Der Anblick der
Super-Autos in Navan und Drogheda gehörte zum Alltäglichen.
Es wurde gemunkelt, daß die of Gloghtonnys
ihren Reichtum einem verborgenen Schatz verdankten, der angeblich vor mehr als
fünfzig Jahren während der Renovierungsarbeiten im Schloß gefunden wurde. Lord
und Lady of Gloghtonny hatten sich nie dazu geäußert, eine offizielle
Stellungnahme gab es nicht. So sprossen die Gerüchte munter weiter.
Der Wald auf dieser Seite gehörte ebenfalls
der Lord-Familie. Es gab einen Weg, der mitten hindurchführte, auf das
steinerne Monument der Vergangenheit zu. Aber dieser Weg war bei den
bestehenden Sicht- und Wetterverhältnissen nicht zu sehen. Rein gefühlsmäßig verlegte
Andy Reef diesen Weg weiter nach links.
Den Geräuschen - bestehend aus raschelndem
Laub und knackenden Ästen - nach zu urteilen, führte die Flucht Shawn Reefs in
Richtung Gloghtonny-Castle. Was wollte er da?
Der Maler erreichte wenige Minuten später
eine Lichtung, in der der Nebel dick wie Milchsuppe war, so daß er die Hand
nicht vor Augen sah.
Dahinter wurde es dann
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