114 - Sylphidas Rachegeister
jetzt noch lange Erklärungen abzugeben. Er hätte
sich nur lächerlich gemacht, und diesen Eindruck wollte er vermeiden. Außerdem
war er - Angesicht zu Angesicht mit der schönen Fremden - nicht dazu imstande.
In Reef erwachten Gefühle mit solcher Macht,
wie er sie bisher noch nicht kannte.
»Er ist verwirrt... er weiß nicht mehr, was
er tut«, fuhr er schnell fort, als er erkannte, daß er schon viel zu lange
zögerte und mißtrauische Blicke ihn trafen. »Er ist sehr alt und in den Wald
gelaufen... Ich habe ihn leider aus den Augen verloren. Aber er muß auf das
Schloß zugelaufen sein .«
»Mir ist niemand begegnet. - Wohnen Sie in
der Nähe, Mister Reef?«
Er erklärte ihr; daß er unten am Kliff vor
der Bucht wohne und Maler von Beruf sei.
Da hellte sich ihre Miene auf. »Maler?
Wunderbar!«
Wie ein junges Mädchen klatschte sie in die
Hände und strahlte ihn mit ihren großen, blauen Augen an. »Ich liebe Menschen,
die schreiben oder Musik machen oder malen ... Aus dem Nichts etwas schaffen.
Sind es schöne Bilder, die Sie malen ?«
Sie wurde zugänglicher und schien zu spüren,
daß ihr von diesem Fremden keine Gefahr drohte.
Andy Reef schalt sich im stillen einen
Narren, als er die Leidenschaft registrierte, die die junge Frau in ihm geweckt
hatte. Sie hätte seine Tochter sein können - gleichzeitig aber haftete ihr auch
etwas unbeschreiblich Altersloses und Reifes an, das zu ihrer Jugendlichkeit
nicht so recht paßte.
Unbestritten aber war ihre beinahe
überirdische Schönheit. Ihre Haut war samten und schien von innen heraus zu
leuchten. Ihre Bewegungen waren fließend und ausgeglichen, leicht und
tänzerisch zugleich.
»Nun, ob sie schön sind, daß weiß ich nicht«,
antwortete er leise auf ihre Frage. »Aber ich hoffe, daß sie gut sind ...«
»Ich muß ihre Bilder unbedingt mal sehen !«
»Gern, wenn Sie ...«
Sie ließ ihn nicht ausreden. »Ich werde
meinem Vater davon erzählen ... Ich werde ihn bitten, Sie ins Schloß einzuladen,
Mister Reef. Und dann müssen Sie uns Ihre Bilder zeigen .«
»Natürlich, jederzeit.«
»Und wenn sie uns gefallen, müssen Sie mich
malen. Machen Sie auch Porträts ?«
»Ja.«
Da lachte sie ihn an. Ihr ganzes
verständliches Erschrecken und ihre Scheu waren verschwunden.
»Das mit dem alten Mann - tot mir leid. Ich
habe wirklich niemand gesehen. Ich würde Ihnen gern helfen .«
»Das ist nett von lhnen. Sagen Sie mir noch
Ihren Namen? Sind Sie eine Tochter des Lords of Gloghtonny ?«
»Ja, Mister Reef. Ich heiße Evalie .«
Ein seltener und in dieser Gegend höchst
ungewöhnlicher Name. Aber Lord und Lady of Gloghtonny schienen einen Grund
gehabt zu haben, dieses zarte, elfenhafte Wesen Evalie zu nennen.
Sie streckte ihm durch die Gitterstäbe freundlich
ihre zarte, weiße Hand entgegen. »Auf Wiedersehen, Mister Reef! Ich hoffe,
Ihnen bald im Schloß zu begegnen. Ich werde meinem Vater von Ihnen erzählen .«
Er ergriff die Hand und drückte sie sanft,
weil er fürchtete, sie sonst zu verletzen. Zwei, drei Sekunden stand er still
da, aber es kam ihm vor wie eine Ewigkeit. Am liebsten hätte er Evalies Hand
nie mehr losgelassen.
Lachend lief die junge Frau den Weg zwischen
den hüfthohen Mauern zurück und verschwand hinter einer Biegung.
Noch eine halbe Minute stand Andy Reef
verträumt und abwesend. Es schien, als würde er sich erst losreißen von dem
Bann.
Wie benommen lief er zurück. Diesmal benutzte
er den Weg, der mitten durch den Wald führte. Einige Male blieb Andy Reef
stehen und blickte in die Runde, in der Hoffnung, doch noch mal eine Spur von
Shawn Reef zu entdecken. Aber das war nicht der Fall.
Der Gedanke an den alten Mann, der ihm zwei
Nächte davor materiell und nun offenbar erneut als Geist erschienen war, um ihm
eine seltsame Warnung zuzurufen, beschäftigte ihn nicht mehr so intensiv wie
vorhin.
Die Begegnung mit Evalie of Gloghtonny hatte
ihn aus der Fassung gebracht.
Andy Reef hatte viele Liebeleien erlebt,
niemals das große Gefühl. Es gab in seinem umfangreichen Bekanntenkreis kein
weibliches Wesen, das ihn je richtig beeindruckt hätte.
Anders Evalie ...
Im stillen schalt er sich einen alten Narren, daß er so dachte und fühlte. Aber er konnte gegen die
Flut seiner Emotionen nicht mit rationellem Denken ankämpfen.
»Ich muß sie Wiedersehen«, flüsterte er und
fühlte sich bei diesem Gedanken beglückt und betroffen zur gleichen Zeit. Sein
Kopf war schwer, und sein Herz klopfte ihm bis zum Hals. Er benahm
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