1144 - Der Rächer aus dem Morgenland
weiter in den Wald hineingelaufen und hielt sich irgendwo versteckt. Da konnte sie dann in Ruhe abwarten, was geschah. Sie würde sicher darauf hoffen, dass er mit seinem Wagen an ihr vorbeifuhr. Dann hatte sie freie Bahn.
Dass sie durch den nachtdunklen Wald laufen würde, traute er ihr nicht zu. Der bequemste Weg war die Straße.
Tommy überlegte, wie er seine Suche ansetzen sollte. In der Nähe gab es die alte Ruine. Sie bot natürlich einige Verstecke. Ebenso wie die Kirche.
Das alles hätte sie aufgehalten. Dunkle Gemäuer waren in der Nacht erst recht nicht geheuer. Nein, der erste Gedanke war schon der richtige. Peggy würde die normale Straße nehmen, und dort wollte er auch hin. Zunächst zu Fuß, später mit dem Fahrzeug, wenn es ihm wirklich gelungen war, eine Spur aufzunehmen.
Er lief ebenfalls durch den Wald, um den Straßenrand zu erreichen. Dabei musste er immer wieder den Kopf einziehen, um von den tief wachsenden Zweigen oder Ästen nicht getroffen zu werden. Er war in die Richtung gelaufen, in die auch Peggy verschwunden war, doch als er den Rand und den schmalen Straßengraben erreichte, entdeckte er sie nicht. Sein Blick fiel nur auf das graue Band, das leicht bergab führte. An besonders schattigen Stellen schimmerte es silbrig. Es war das nicht weggetaute Eis.
Tommy fluchte. Er kam sich so verlassen vor. Die Bäume wuchsen sehr hoch, und die Straße wirkte wie der Grund einer Schlucht.
Die Echos seiner wüsten Schimpferei verhallten. Stille trat ein, die ihm nicht gefiel. Es war so etwas wie ein sechster Sinn, der sich bei ihm meldete. Irgendwo in der Nähe lauerte etwas anderes, wobei er nicht unbedingt von einer Gefahr ausgehen wollte. Nur von einer gewissen Unruhe.
Hinter seinem Rücken klirrte etwas. Tommy war irritiert. Blech oder Metall im Wald?
Oder war es eine Täuschung gewesen?
Noch einmal holte er tief Luft. Dann fuhr er herum.
Ihm stockte der Atem, denn vor ihm stand eine schreckliche Gestalt…
***
Das ist nicht wahr, dachte Tommy. Das gibt es nicht! Das muss ein Film sein!
Es war kein Film. Tommy stand mitten in der Wirklichkeit, und die Gestalt gehörte dazu.
Um den Jungen herum war es finster. Dennoch sah er die Gestalt recht klar. Sie schien von einem etwas helleren Schein umflossen zu sein. Jedenfalls deutete das leichte Schimmern darauf hin.
Es war ein Ritter! Einer wie man ihn aus dem Mittelalter kannte oder so ähnlich. Darüber war Tommy nicht so genau informiert. Das Wichtige für ihn war die Rüstung, deren Metall kalt schimmerte, als hätte es auf der Oberfläche Licht eingefangen. Schwere Brust- und Schulterpanzer machten die Gestalt noch kompakter als sie tatsächlich war, und die Gestalt hatte ein Schwert.
Vom Gesicht und vom Kopf sah Tommy nichts. Ein geschlossener Helm bedeckte den Kopf, aber es gab darin ein paar Schlitze. Öffnungen für Mund, Nase und Augen.
Gerade in ihrer Höhe sah der Junge ein rotes Licht oder Funkeln, das er sich nicht erklären konnte.
Als wären dort blutrote Tropfen durch die Augenschlitze gedrückt worden.
Warum und woher diese Gestalt so plötzlich erschienen war, dafür hatte Tommy keine Erklärung.
Ja, sie war gegangen, das stimmte schon, da er auch die entsprechenden Geräusche vernommen hatte. Das musste auch seinen Grund haben. Er dachte an die Mauern der Ruine, die sich nicht weit entfernt befanden. Vor langer Zeit hatte dort mal eine Burg gestanden. Hin und wieder spielten Kinder auf dem Gelände, doch von einer Gestalt in echter Rüstung hatte er noch nie etwas gehört. Überhaupt - wer nahm schon die Qual auf sich und klemmte sich freiwillig in ein derartiges Gefängnis?
Er konnte das nicht verstehen, und er merkte auch, dass er von Sekunde zu Sekunde unsicherer wurde und ihm das Blut in den Kopf stieg.
Tommy hatte Angst.
Er starrte den Ritter an.
Der Ritter starrte mit seinen rötlichen Augen unbeweglich zurück. Kein Leben war in diesen Schlitzen. Nur eben das verdammte Rot, beinahe so wie Blut. Als wären die Augen der Gestalt dabei, Blut zu verlieren.
Die Gestalt war nicht grundlos gekommen. Da stimmte etwas nicht, und Tommy dachte an Flucht - und musste plötzlich feststellen, dass er sich nicht mehr bewegen konnte. Alles an ihm war schwer, und auch seine Beine schienen von einer Rüstung umschlossen zu sein.
Er konnte nicht gehen. Die fremde Gestalt bannte ihn auf der Stelle. Zum ersten Mal, seit er sie zu Gesicht bekommen hatte, begann sie, sich zu bewegen. Der linke Arm glitt in die Höhe.
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