1155 - Der Erwecker
bewegten sich die Roboter, aber ein lauter Ruf des Fremden ließ sie wiederum innehalten.
„Was willst du eigentlich?" fragte der Pfarrer ärgerlich.
„Ich bin gekommen, das Sterben zu beenden!" erwiderte der Fremde. Er machte mit den Armen eine Geste, die den Friedhof und die ganze Welt umfaßte. Nichts war an ihm, das lächerlich oder unglaubwürdig gewesen wäre.
„Ich bin hier, um das Zeitalter des Todes zu beenden und es durch das Reich des Ewigen Lebens abzulösen", fuhr Le So Te fort. „Nichts und niemand wird verloren gehen.
Alle werden zurückkehren. Diejenige, die ihr Vishna nennt, wird nicht über euch triumphieren!"
Er befahl den Robotern, den Sarg neben dem Grab abzustellen und ihn zu öffnen.
Unruhe entstand unter den Gläubigen, denn sie befürchteten ein Sakrileg. Aber die Gestalt des Fremden ragte wie eine Mauer zwischen ihnen und dem Grab auf, und der Pfarrer wich mehrere Schritte zurück.
Le So Te ruderte mit den Armen. Rotweißer Nebel legte sich um seinen Körper und hüllte den Sarg mit ein. Ein Sirren wie von einem Insektenschwarm lag in der Luft, und ein fremdartiger, würziger Duft drang in die Nasen der Trauergäste. Der Fremde sank auf die Knie und murmelte etwas, was sich wie ein Gebet anhörte. Er hielt den Kopf gesenkt, während sich der Nebel dunkelblau verfärbte und ihn fast den Blicken der Umstehenden entzog.
Dann, von einer Sekunde auf die andere, war der Spuk vorbei. Le So Te beugte sich über den Toten, der bleich und steif in seinem Behältnis lag.
„Ortnet!" rief der Fremde. „Ortnet Webber! Erwache!"
Übergangslos wurde es um mehr als zehn Grad kälter. Die Menschen begannen zu frieren, aber keiner rührte sich. Der unheimliche Bann, in den der Fremde sie geschlagen hatte, hielt sie fest.
Die Temperaturen erreichten annähernd den Gefrierpunkt. Die Blätter und Blüten der Büsche und Bäume senkten sich langsam nach unten und verloren das kräftige Grün ihrer Farben. Die Äste knarrten, und ein Luftsog entstand, ohne daß eine Ursache erkennbar war.
Noch einmal rief der Fremde.
„Ortnet Webber, erwache!"
Selbst für einen Christen, der an die Auferstehung glaubte und die Überlieferung der Wundertaten Christi kannte, mutete der Vorgang gespenstisch an.
Ortnet Webber schlug unvermutet die Augen auf. Er erfaßte die Situation mit einem Blick. Er richtete sich auf und stieg aus dem Sarg, wobei Le So Te ihm die Hand reichte.
In seinem langen, weißen Leichenhemd stand er da.
„Ihr hattet mich schon fast unter der Erde?" fragte er, und seiner Stimme war nicht das geringste anzumerken. „Bringt mir meine Kleider!"
Jetzt entstand auf dem Friedhof von Cascoose Spring ein Tumult. Die Witwe brach bewußtlos zusammen, und die Angehörigen wichen vor dem Auferstandenen zurück. In panikartiger Flucht verließen die Menschen den Platz um das Grab und brachten sich in Sicherheit. Was sie gesehen hatten, überstieg die Belastbarkeit ihrer Nerven, die durch die Ereignisse im Grauen Korridor sowieso ständig am Rand des Zusammenbruchs standen.
„Rettet euch!" schrieen laute Stimmen. „Der Satan ist da!"
Der Pfarrer stand zitternd dabei und preßte die Lippen zusammen. Nur Beraul Mattras hielt sich in seiner Nähe auf.
„Ortnet", würgte der Pfarrer hervor. „Ist alles in Ordnung? Bist du wirklich völlig lebendig?"
Der Bürgermeister nickte ernst. Er deutete auf den Fremden.
„Wie er es gemacht hat, weiß ich nicht", sagte er. „Aber er hat mich auf erweckt!"
Le So Te hatte sich ein wenig entfernt. Er achtete nicht auf die Worte. Er hatte sein Gesicht abgewendet und blickte den Davoneilenden nach.
„Ich bin gekommen, die Toten wieder zum Leben zurückzurufen!" flüsterte er. „Das ist meine einzige Aufgabe!"
„Dann ist ein Wunder geschehen!" stammelte der Pfarrer. „Dann bist du ein Heiliger!"
„So ist es", nickte der Fremde und sah ihm zu, wie er vom Grab weg auf die Transmitterstation zurannte.
„Er muß es seinem Bischof melden", erklärte Ortnet Webber. „Ist dir das recht?"
Le So Te gab keine Antwort. Er schritt zum Ausgang des Friedhofs und schwenkte an seiner Außenseite in Richtung Westen ab. Er verließ Cascoose Spring und wanderte durch das Große Artesische Becken mit seinen wundervollen Naturbrunnen. Die Menschen verloren ihn aus den Augen, und die Behörden glaubten den Berichten der Einwohner kein Wort. Die Medoroboter hatten eben den Scheintod von Ortner Webber diagnostiziert, und der Bürgermeister war rechtzeitig vor seiner
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