1155 - Der Erwecker
Stoßgebet stieg hinauf in den Äther, manches Gewissen meldete sich nach Jahren oder Jahrzehnten mit unerbittlicher Intensität.
Alles ist vergänglich, dachte der Pfarrer.
Er stellte sich neben den Sarg und reichte den Familienangehörigen die Hand. Webber hinterließ eine Frau, vier Kinder und siebzehn Enkel. Ein Urenkel war unterwegs, wie man sich erzählte. Die nähere Verwandtschaft hatte sich ebenfalls eingefunden, und er sah Beraul Mattras darunter. Der siebzehnjährige Sohn des Wissenschaftlers Kourl Mattras war allein. Seine Mutter und sein Bruder fehlten.
Der Pfarrer ergriff den Weihwasserkübel, den der Matten-Willy zu seiner Linken hielt.
Dieser hatte die Form eines aufgeblasenen Regentropfens angenommen. Der Geruch des Weihwassers schien ihn zu stimulieren.
Der Pfarrer tröpfelte mit den Händen Weihwasser über den Sarg und erhob seine Stimme. Er sprach ein paar Gebete, und sie beinhalteten sinnvolle Worte für den Toten, dessen Existenz ja nicht zu Ende war. Es gab ein Leben nach dem Tod, und dort befand sich Ortnet Webber jetzt.
Vielleicht noch nicht ganz, aber fast.
Die leuchtenden Haare des Fremden hatten sich genähert. Er stand jetzt keine fünf Meter vom Sarg entfernt.
Wirklich ein enger Freund, dachte der Pfarrer. Wohl aus Studienzeiten. Und laut sagte er: „Liebe Angehörige, liebe Gemeinde. Ein wirklich großer Geist ist von uns gegangen, eine starke Seele hat Eingang gefunden im Herrn. Wer wollte es ihr verwehren? Wer wollte sich nicht freuen? Ortnet Webber ist kein Opfer irgendwelcher bösartiger Mächte geworden. Er ist in den Tagen der Ruhe gestorben, und der Tod kam aus ihm selbst. Sein Heimgang ist vom Frieden begleitet, und wir wollen uns darüber freuen. Eines Tages werden wir ihm wieder begegnen, dann, wenn alle Menschen auferstehen!"
Er leerte den Weihwasserkübel über dem Sarg aus und gab ihn dem Matten-Willy zurück. Von seinem zweiten Begleiter nahm er die Schaufel und träufelte ein wenig Erdreich und Asche über das Holz und die wertvollen Opale.
„Asche zu Asche, Staub zu Staub!" betete er. „Was aus dem Staub ward, kehrt zu ihm zurück!"
Er gab den Robotern ein Zeichen, und sie begannen ihre Teleskoparme auszufahren und den Sarg langsam hinunterzulassen. Ehrfürchtiges Schweigen begleitete den Vorgang.
„Halt!"
Ein einziges Wort war es nur, das erklang. Aber in ihm lag eine solche Kraft, ein solcher Wille, daß die Roboter ihre Arbeit sofort unterbrachen. Sie warteten auf weitere Anweisungen und rührten sich nicht.
Der Pfarrer blickte auf den Fremden, der sich zwischen den Trauernden hindurch schob und an den Sarg trat. Er war eine imposante Erscheinung. Er trug eine himmelblaue Toga und braune Ledersandalen. Das Haar umwehte seinen Kopf wie ein himmlischer Vorhang.
Das freundliche Gesicht und die majestätische Haltung vervollständigten den Eindruck seiner Persönlichkeit noch.
„Du willst bestimmt ein paar Worte zu dem Toten sprechen", stellte der Pfarrer fest. „Ich werde sie in meiner anschließenden Grabrede berücksichtigen."
„Du sagst es!" erwiderte der Fremde mit tiefer, tönender Stimme. „Le So Te hat dem Dahingeschiedenen ein paar Worte zu sagen!"
*
Es war einfaches, hundsgewöhnliches Fieber. Aber es mußte irgendeine Ursache haben. Es konnte nicht von selbst kommen. Der Diagnoseanschluß des Computerterminals im Wohnzimmer hatte einwandfrei ermittelt, daß es sich um nicht mehr als eine Erhöhung der Körpertemperatur handelte. Er empfahl Essigwickel und eine Vorbeugedosis Beta-Blocker. Aber gerade das hielt Dalya Mattras für unverständlich. Es war wohl besser, sie verständigte den Hausarzt, sobald dieser von der Beerdigung zurückkehrte.
Holyn Mattras lag auf seiner Pneumoliege und hatte die Decke bis zum Hals emporgezogen. Auf seiner Stirn standen dicke Schweißperlen, und seine Lippen zitterten leicht. Er hielt die Augen geschlossen, aber er war wach und wußte seine Mutter am Kopfende des Bettes.
„Ist Beraul noch nicht zurück?" fragte der Fünfzehnjährige. „Warum beeilt er sich nicht?"
Dalya schüttelte stumm den Kopf und tupfte die Stirn mit einem warmen Lappen ab.
Ortnets Beerdigung dauerte länger, weil so viele Menschen daran teilnahmen. Im Normalfall benötigte der Pfarrer nie länger als eine halbe Stunde, aber Beraul war schon eineinhalb Stunden fort.
Hoffentlich ist dem Jungen nichts zugestoßen! flehte Dalya. Er muß doch jeden Augenblick eintreffen.
Was würde Kourl dazu sagen? Sie hatte kurz mit
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