116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)
Abschnitt zusammengebrochen war und der fünf Sätze weiter unten zusammenbrechen würde, plötzlich anfing, unkontrollierte Bewegungen zu machen, die Hände zum Himmel hob, eine Geste, mit der er seinen Abstand zur Sonne verringerte, sich aber vor allem eines imaginären Feindes erwehrte, mit den Füßen nach der Leere trat, die bis oben hin mit Hitze angefüllt war. Sie hatte gesehen, wie seine Gefährten in ihrer Arbeit innehielten und wie einer von ihnen kurz davor gewesen war, zu ihm zu gehen, um ihn festzuhalten, zu beruhigen, dann aber von einem Dritten zurückgehalten wurde, dessen Resignation möglicherweise größer war. Sie hatte ihre traurige und mitfühlende Betroffenheit gesehen angesichts dieses plötzlichen Anfalls von Wahnsinn. Ihr eigener Ausdruck verriet, ohne dass es ihr bewusst war, dass sie sich selbst in einer Schlucht zwischen dem von ihr geteilten, hervorbrechenden Schmerz und der Resignation befand, die sie wahrnahm und die ihr die angemessenste Haltung zu sein schien. Der Hampelmann hatte in der Tat einige Augenblicke lang in einem parallelen Anderswo gekämpft, und sein Kampf hatte die dazu im Kontrast stehende, völlige Reglosigkeit seiner Umgebung unterstrichen. Er hatte sogar kurz aufgeschrien, ein kehliger, verzweifelter Schrei, dann war er zu Boden gefallen, weil er zu schnell zurückwich, oder aber es war ihm gelungen, diese fliehende und raue Welt mit einem Ruck an sich zu ziehen, mit allem, was in ihr war, den Pflanzen, den Menschen und den Frauen im Profil. Dieser Sturz war heftig in sie eingebrochen und hatte ihr befohlen, darauf zu reagieren. Also war sie auf den Weg hinausgetreten und zu dem am Boden liegenden Mann gegangen, fast gerannt. Sie sah gleich, dass er nicht verletzt war, aber unter Schock stand. Ihr rasches Auftauchen hatte die anderen förmlich erstarren lassen, und sie sahen zu, wie sie ein Knie auf den Boden stützte, ihre langen Haare zurückstrich, die wegen des Windes an ihrem Mundwinkel klebten, und ihm eine Hand auf die Schulter legte.
Dann stießen zwei Blicke zusammen. Auf einmal waren ihre beiden Gesichter sich unglaublich nah. Der unstete Blick des Mannes auf der Erde wanderte die Wölbung ihrer Wangen entlang, über ihre Lippen hinweg, über den Schatten ihrer Haare, die Augenringe, die ersten Fältchen, die geröteten Äderchen in ihren Augen. Sie tat das Gleiche. Jeder der beiden vertraute dem anderen die Verantwortung für sein Gesicht und seinen Entschluss an, sich nicht auszuweichen und diesen entwaffneten Augenblick anzunehmen. In diesem Moment ohne Dauer, als sie einander anblickten, vertraute jeder dem anderen seine Verletzungen an. Bei ihr war es der Bruder, der fortgegangen, ausgewandert war, diese gestrichelte Anwesenheit, dieser Block von Abwesenheit, dieser Nebel in ihrem Leben. Bei ihm war es die Verzweiflung darüber, in der Ferne zu leiden. Beinahe schien es, als schlössen sie einen Pakt. Eine Sprache der Beschaffenheit der Haut, eine Sprache der Formen, der aus beiden Mündern entströmenden Luft entstand, die klare Grammatik vom Übermaß zurückgehaltenen Schmerzes. Eine reine Sprache, eine Galaxie von Worten, Sternen, um gemeinsam ein Stückchen vom Universum zu verstehen. Sie machten sich selbst zu Sternen, spannten ein Seil, wurden für den Anderen zu Worten aus dieser Galaxie. Er, die Projektion des Emigrierten, sie, die der auf dem Ablegesteg zurückgelassenen Frau. Es war ein mildes Ausufern, ein sich Hingeben, das Glitzern einer miteinander geteilten Freiheit, eine ganze Welt voller geheimer Zeichen. Ihrer beider Reglosigkeit, der Druck der Hand auf der Schulter, die Zeit, in der ihre Augen dem ohne zu zwinkern dargebotenen Blick standhielten, alles hatte plötzlich einen Sinn. Eine rebellische Handlung wurde lebendig, eine spontane Schöpfung. Nichts Romantisches, nicht der Beginn von Verliebtheit, nein, nichts als diese reine Sprache, das berauschende Gefühl, dem Anderen zu gehören, ermöglicht durch das plötzliche Hervortreten jener geschmolzenen Worte und anschließend von den zwischen ihnen schwebenden Klarheiten zum Glänzen gebracht. Sie waren wie zwei Bücher, die Worte schrieben sich von selbst, flüssige Worte, sie nahmen die ganze Fülle, die sie umgab, in sich auf, die Gerüche der Erde, die Trübheit durch den in der Luft schwebenden Sand, den Schweiß, jeder erzählte davon, schrieb es ein, sie zeichneten diese gemeinsame Welt, deren Gebräuche sie beide kannten und miteinander teilten, deren Zentrum sie
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