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116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

Titel: 116 Chinesen oder so: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Heams-Ogus
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waren, diese Welt ging von ihnen aus und setzte sich von dort in einer kreisrunden Welle fort, sie besaßen die Schlüssel zu diesem Raum ohne Dimensionen, der sich über den Raum des Krieges gelegt hatte, dem sie sich mühelos entzogen hatten. Es hatte nur der Überraschung bedurft. Dieser Auslöser war nötig gewesen, diese mickrige, kleine zusätzliche Sekunde, die ihr Blick länger gedauert hatte, die Sekunde, die bewirkt, dass man sich einlässt, dass man den Tunnel betritt, an dessen gewölbter Decke Sterne leuchten, weil man zu wissen meint, dass es Licht am Ende gibt. Man ist sich nicht sicher, ob man es sieht oder es sich nur vorstellt, ob es wirklich Licht ist oder vielleicht Wärme, aber man ist sich gewiss, dass es einen Weg dorthin gibt. Alles liegt in dieser kleinen Sekunde, jener Sekunde, in der man normalerweise den Blick gesenkt hätte, aber diesmal nicht, weil man erschöpft ist oder weil die Augen des Anderen einen rufen, neugierig machen, einem sagen, dass man nicht loslassen, das Band nicht zerschneiden soll. Man erlebt einen dieser seltenen Augenblicke, wenn das Geschenk seiner Selbst keine Antwort mehr ist, wenn die Zeit neu geschrieben wird und die grausamen Rhythmen verjagt und das Zug-um-Zug, die Konsequenzen, die Rache, die Logik, die Reaktionen und die Reue. Diese kleine zusätzliche Sekunde, sie war da gewesen und hatte ihr Gepäck hier zurückgelassen, an jenem Tag im Juni 1942 , am späten Nachmittag, auf dieser Straße, die aus Isola hinausführte, sie hatte sich zwischen diesem entwurzelten Chinesen und dieser unausgefüllten Frau ausgedehnt, hatte ihnen als Elixier gedient, hatte sich in Worten dargeboten. Jeder hatte den Anderen verstanden, die Asymmetrie verschwand. Es war der Widerhall der Exile, denn sie waren die behauenen Steine gewesen, bei deren Zusammenschlagen diese Klammer der Splitter, dieser Einschub entstanden war. Sie waren das Gebiet, auf dem ihre Gemeinsamkeiten lagen, der Punkt im Spiegel, wo der Finger und das Bild des Fingers einander berühren.
    Sie hielt ihn zurück. Er stützte die Hand auf den Boden, unterbrach den Fluss zwischen ihren Blicken. Um sie herum waren wieder die Gräser, die Entwurzelnden und die Gipfel des Sasso. Die Abruzzen nahmen sie wieder auf, die Luft fand wieder zu ihrer Dichte, die Hitze, die nun langsam nachließ, klebte wieder an ihrem Körper und mit ihr die Zeit, in der man spürte, wie es langsam kühler wurde. Die Entwurzelnden hatten die Szene verfolgt, die eigentlich gar keine gewesen war. Eine Frau war herausgekommen, um dem Mann, der einen Hitzeschlag erlitten hatte, zu Hilfe zu eilen, hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt, und die beiden hatten einen Blick ausgetauscht, der gerade lang genug gedauert hatte, dass er bemerkt wurde. Das war alles. Rasch hatte der Mann seine Hand zurückgezogen, um sich damit auf den Boden zu stützen. Er wollte gerade wieder aufstehen und da weitermachen, wo er vor dem Fehlalarm aufgehört hatte. Indem sie den Druck auf die Schulter, die sie noch nicht losgelassen hatte, verstärkte, bedeutete sie ihm, einen Augenblick zu warten. Sie ging fort und kam mit einer Schale Wasser zurück, die er in einem Zug leer trank. Er stand auf. Er strich sich den Schweiß aus den Brauen und blickte ins Leere. Als er sie wieder ansah, biss er sich auf die Lippen, der abgebrochene Versuch eines Lächelns, bevor er davonging, sich erneut bückte, um weiter Unkraut auszurupfen. Leben, das war ausrupfen. Ihr Schweigen hatte die Farben einer Welt gehabt.

Juni, dann Sommer, dann September.
    In der friedlichen Stimmung der Rückkehr von den Feldern hielten sie sich auf der breiten Esplanade von San Gabriele auf und saßen mit dem Rücken an den Schlafsaal gelehnt, dessen Schatten immer größer wurde. Es war die Stunde, wenn die aufsteigende warme Luft in Mannshöhe auf die Kühle traf, die von den Bäumen herunterkam. Sie blickten ins Tal. Als einer von ihnen dazukam, hörte man seine Schritte auf dem Kies knirschen. Selbst in der abendlichen Ruhe herrschte noch Chaos. Die Chinesen, die einen Namen trugen, bewegten sich allmählich auf den Camerone zu, Abläufe, die so automatisch waren wie das Dunklerwerden der Landschaft. Der Himmel hatte diesen vorübergehenden perlmutternen Farbton, und ein paar vereinzelte Wolken wanderten nach Osten, während die Sonne sich hinter den Sasso zurückzog und aus dem All über die Farbpalette zu bestimmen schien, weit entfernt, aber dennoch mächtig. Nach und nach blieb nur das

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