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116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

Titel: 116 Chinesen oder so: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Heams-Ogus
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Mann mit dem Instrument scharten. Das war ungewöhnlich, normalerweise war dies die Stunde der Reglosigkeit, ja der Erstarrung. Weder sahen sie etwas noch begriffen sie, aber sie lauschten, und so drang die kleine Musik an ihre Ohren. Das erinnerte sie an eine andere Musik, die älter war und einige Monate zuvor an genau derselben Stelle ertönt war. In diesem zum Lager umfunktionierten Kloster hatte es vor den Chinesen andere Internierte gegeben. Es waren Juden gewesen, die vor ihnen dort waren, man hatte sie eingesammelt und vorübergehend dort untergebracht und sie dann, wenige Tage vor der Ankunft der Chinesen, woanders hingebracht. Isola war der ruhende Punkt inmitten der Verlegungen, ein Ort, wo man mit seinen Geschichten ankam und den man mit seinen Ängsten wieder verließ, denn mit jedem weiteren Transport kehrten die Zweifel zurück und wurden die Schrecken greifbar. In den Erinnerungen, die nach den Juden in Isola zurückgeblieben waren, gab es die Gestalt eines Geigers. Jener Geiger, der einen Namen hatte und dem es gelungen war, seine Geige von Ort zu Ort zu retten, hatte dem Tal ein paar Monate zuvor an genau dieser Stelle ebenfalls Töne geschenkt. Im Übrigen hatte er das so oft getan, dass einige Bewohner sich angewöhnt hatten, sich in der Nähe aufzuhalten, wenn ihnen diese Musik von weither geschenkt wurde. Um diese Musik hatten sich konzentrische Kreise gebildet, der Erste davon war der Arm des Geigers, der sich um das Instrument legte, es stützte und zärtlich über die Saiten strich. Der Zweite war die kleine Gruppe Internierter, die sich zusammenfanden und denen darin die Möglichkeit eröffnet wurde, einander wieder mit Würde zu begegnen und zu entfliehen. Der Dritte war eigentlich gar keiner, sondern bestand lediglich aus ein paar Punkten auf einem weit ausgedehnten Kreis: die Dorfbewohner, die von fern lauschten. Die Musik hatte diese luftige Architektur erschaffen, deren Zentrum sie war, die in ihrer geschichteten Form aber unveränderlich war.
    Seit einigen Monaten war der Geigenspieler nicht mehr da, und ein paar Lamellen aus Metall, ein wenig grober Faden und ein kleines Holzstück erinnerten die beiden Dorfbewohner daran, dass die auf der Esplanade herrschende Ruhe in Wirklichkeit Verzweiflung war, solange man auf die Rückkehr des Klangs wartete. Jene Melodie erinnerte ganz einfach deshalb an die vorige, weil sie Melodie war, sie war eine Brücke, ein Fortbestehen, und jeder Musiker war ein Pfeiler davon. An diesem Ort, wo vom Horizont die unendliche Weite ausging und als Schaum zu Füßen der Bewohner von Isola erstarb, vermochte jede Brücke, egal ob aus Stein oder nicht, das Prinzip der Einsamkeit zu durchbrechen. Natürlich war diese Einsamkeit nicht absolut, man konnte über die Straße woandershin gelangen, man konnte auf die Hügel steigen, um andere Dörfer auftauchen zu sehen, andere Täler, andere Blöcke von Geschichte. Aber dennoch war hier mehr Einsamkeit als anderswo, sie lag indirekt in jedem Blick, der nicht anders konnte, als in die Ferne zu schweifen, den Mangel zu ermessen, sich vorzustellen, wie die Welt verschwand, und plötzlich Lust zu bekommen, sich daran festzubinden. Die paar armseligen Metalllamellen mit ihrem Vibrieren, welches sich mit dem Klang der verschwundenen Violine verband, diese Harpunen in die Vergangenheit, in die Unermesslichkeit der Welt der Menschen irgendwo, waren auf einmal auch eine Abspaltung, eine der Brutalität zugefügte Brutalität, ein Kräftemessen mit der Verbannung und mit denen, die sie beschlossen hatten. Eine zentrifugale Hypothese. Dort, im schwächer werdenden Abendlicht, in dem das Blau, das die Steine wärmte, von einem marmorierten Muster rosafarbener Wellen durchzogen war, entdeckte Isola auf einmal eine Alchemie in sich, in der ein paar Lamellen aus Metall, Menschen von weither, die Mäander der Erinnerung und die Kraft, den Kopf zu heben, über den ein frischer Wind hinwegstrich, aufeinandertrafen. Das Gefühl, zu sein sei etwas anderes als die Unmöglichkeit, nicht zu sein, erfüllte die Männer auf der Esplanade und tilgte für ein paar Minuten die Arroganz des voranschreitenden Vergessens.
     
    Bald aber würde die Musik wieder aufhören, und die Zeit würde wieder verschwinden. Jede Melodie trägt ihr Ende in sich. Danach hätte man nichts zu tun. Die beiden Dorfbewohner würden die Straße ins Dorf nehmen, noch ganz benommen von diesem Anderswo und von dieser Zeit, würden nach Hause zurückkehren und einen

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