116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)
Grau der Menschen zurück. Sie sahen, wie sich das Grau der anderen immer undeutlicher vor dem dunkel gewordenen Hintergrund des Nachthimmels abzeichnete, obwohl der Sasso durch den goldenen, langsam schwächer werdenden Lichthof noch einige Augenblicke wie aus der Landschaft ausgeschnitten wirkte, so als würde ihm das Licht noch eine letzte Gnadenfrist gewähren. Obwohl dieser Übergang jeden an alles erinnerte, was in jedem Augenblick ohne einen Laut verschwand.
Sie waren alle dort, hundertsechzehn oder so, minus ein verspäteter Spaziergänger, minus ein Kranker, der schon im Camerone lag, minus die paar, die noch damit beschäftigt waren, im Dorf einen Dachstuhl zu reparieren. Doch sie waren da, waren wie jeden Abend in dieses Lager zurückgekehrt, an diesen Ort ohne echte Begrenzung, in dieses entwaffnende Gefängnis ohne Gitter, ohne richtigen Wärter, ohne plakativen Hass, das sie aber dennoch zunichte machte, jenes Gefängnis, dieses nicht denkbare und nicht gedachte, lediglich von jedem erfahrene, gesehene und ertragene Lager, und das Aufgeben eines jeden von ihnen war ein Gitterstab, genauso wie das offenkundig vorhandene Mitgefühl der Dorfbewohner, das eine Spur Misstrauen nicht ausschloss. Das alles, jeder Teil davon, war ein Gitterstab. Die Gleichgültigkeit von jedem einzelnen Tag, der verstreicht, ohne dass irgendjemand beschließt, seine Fesseln abzustreifen und dieses heuchlerische Gefängnis Stein um Stein zu zertrümmern, sei es mit den Händen, sei es mit den Fingernägeln, alles, was das verhinderte, war ein Gitterstab. Und der Abend war stets der heikelste Moment, wenn das, was getan werden musste, was dabei geholfen hatte, der Langeweile und der Wut auszuweichen, bis zum nächsten Morgen verschwand und die buchstäblich zugrunde gerichteten Chinesen sich selbst überließ, gebrochene, erschöpfte Menschen mit Schmerzen in Leib und Seele, zugrunde gerichtet aber auch durch ihre Verleugnung, diesen Abgrund, in den man sie gestoßen hatte.
Auf dem Mäuerchen, das die Esplanade umgab und hinter dem eine kleine Schlucht zur tiefer liegenden Straße hinabführte, saß einer von ihnen und war mit etwas beschäftigt. Während alle anderen ihre Gedanken in die unbestimmte Weite des Horizonts schickten, war seine Aufmerksamkeit auf jenes Mäuerchen gerichtet, auf etwas in seiner unmittelbaren Nähe. Er hatte ein paar verschieden große Lamellen aus Eisen neben sich ausgebreitet, ein paar Fadenstücke und ein kleines Stück Holz. Er nahm eine Lamelle nach der anderen in die Hand, um sie aus der Nähe zu betrachten. Seine Gesten waren langsam. Schließlich wählte er ein Dutzend aus und fügte sie zusammen, indem er sie um das Holzstück herum anordnete und mit einem groben Faden zusammenband. Seine Finger hatten sie aufgrund ihrer Biegsamkeit und ihrer Größe ausgewählt. Dann führte er sie zum Mund und gab dem Tal einen Klang. Das war ein Bruch.
Die ziellos umherschweifenden Blicke fingen sich wieder und suchten die Quelle dieses neuartigen Klangs, dieses Geräusches, das nun Melodie geworden war. Der Musiker auf dem Mäuerchen hatte sie überrascht, indem er den groben Nachbau eines kleinen metallenen Instruments angefertigt hatte, das hier keiner außer ihnen allen kannte. Und diese bekannte Melodie, die ihr Gedächtnis dazu brachte, sich zu erinnern, ließ in ihnen gleich einer heißen Quelle einen Strom von Bildern aufsteigen, die in ihnen eingeschlossen waren. Dieser Klang war gleichzeitig ein Rhythmus, er hatte seine Längen, seine Pausen, seine Beschleunigungen: Und mit ihm kehrte die Zeit zurück, die sich ungebeten und ohne Vorwarnung in die Verwirrung von Gegenwart und Vergangenheit einmischte und ihnen Freiheit anbot. Es war nur eine Skizze der Zeit, ein Zeitgestammel, ein Sumpf, in dem Blicke in anderen Blicken nach gemeinsamen Reaktionen suchten. Dieser Klang verlieh solchem Austausch erneut einen Sinn, ermöglichte eine andere Lösung als einander auszuweichen. Er hatte seinen Takt, seine Melodie, seine Refrains. Während sie ihm gemeinsam lauschten und auf sein Ende warteten, machten sie sich die Dauer der Zeit von neuem zu eigen. Diese schüchterne Melodie, die versuchte, da zu sein, rief sogar hier und da ein Lächeln hervor, sie war ein Anfang, ein Versprechen von Verbrüderung. Sie schenkte der wiederkehrenden Zeit einen Geschmack.
Ein paar Meter weiter saßen zwei Dorfbewohner auf einer Bank und erlebten die Szene mit, als ein paar der Gefangenen sich schüchtern um den
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