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116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

Titel: 116 Chinesen oder so: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Heams-Ogus
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dünne Zweige zum Vorschein brachten, und lieferten die Landschaft der Armee der Grautöne aus, einer Palette von Aschetönen, hier und da mit Tupfen vom Grün der Pflanzen verziert oder vom rötlichen Braun von den Mauern der Gebäude, von der Kapelle, einem Unterstand oder von verlassenen Häusern, die um das Plateau herum standen. Das Grau, der kalte Wind und bald darauf die Regentropfen gewannen die Oberhand.
     
    Fügte sie etwas hinzu? Vielleicht gab es keine Fortsetzung. Oder aber sie brachte es nicht über sich, davon zu erzählen. Oder sie erzählte nur ganz leise davon. Niemand wusste davon, außer vielleicht eine halb schlafende Mutter, die ihr in regloser Zärtlichkeit die Bürde ihres Geheimnisses abgenommen hatte, ohne sie anschließend je darauf anzusprechen, es in ihr fest verriegeltes Herz eingeschlossen hatte. Die Geschichte würde die Chinesen der Abruzzen ja auch hinwegfegen, warum sollte sie es mit den Geheimnissen einer siechen Mutter also nicht genauso machen. Sie saß also am Fußende von deren Bett, und es sah auch niemand, wie diese Frau ohne Alter schließlich verstummte, sich von der Müdigkeit übermannen ließ, den Kopf auf die verschränkten Arme legte und, als ihre schlaffe Wange den Ärmel berührte, merkte, dass diese tränennass war, und wie sie, als es Abend wurde, ihre grünen Farnaugen schloss und vorm Weggehen auch noch ein paar Traummomente stahl. Dieser Traum war ein Ort. Er brachte sie irgendwohin, wo sie und er, ihre jeweiligen Leben, die Dorfbewohner und die Chinesen vorwärtsgingen, als eine Gruppe, zusammen, vom Rest der Welt getrennt. Dieser Ort hatte Ähnlichkeiten mit Isola, aber auch mit Chinas Bergen, die genauso aussahen wie in früheren Träumen, in denen sie bereits dort gewesen war. Es war ein zwitterhafter Ort, ein Unglücksdorf, die tote Hülle von verlassenen Leben. Aber sie beide waren das Zentrum dieses Ortes, aufrecht und tapfer. Die Menge stand um sie herum, aber zugleich waren sie auch diese Menge, sie verkörperten sie. Sie waren mit absoluter Sicherheit ein verborgener Teil der Menschheit. Dort, in diesem mysteriösen Schlaf, waren sie, sie beide, die verlorene Hälfte der Welt der Menschen.
     
    Der erste Tropfen fiel mit einem leisen Geräusch herab, ließ ihn die Augen zum Himmel richten und verstehen, dann waren es drei, dann zehn, noch kamen sie etwas vereinzelt herunter, wobei jeder von ihnen ein Geräusch verursachte, dann waren es hundert, dann hunderttausend, und ihnen voraus ging dieses Rauschen wie von Wassermassen, kräftige Tropfen, die durch die näher kommenden Blitze noch zahlreicher wirkten. Endlich also wurde der Regen Wirklichkeit, die Realität des erwarteten Regens, dieses eingelöste Versprechen. Er schöpfte neue Kraft daraus, denn er wusste sich weit vom Lager entfernt, wusste, dass er durchnässt zurückkehren würde, da er wegen des Gewitters sowieso nicht unter einem Baum Schutz suchen durfte. Er begrüßte dieses Versprechen, bot ihm seine Haut dar. Jeder Tropfen, der seinen Arm berührte, offenbarte ihm seine Beschaffenheit, das Material, aus dem er bestand, und das weit mehr als in der Leichtigkeit des späten Nachmittags ein paar Minuten zuvor. Er fühlte, wie er Leben in sich aufsog, sich mit einer Gegenwart anfüllte, die nur ihm gehörte und die auch nichts anderes war als er und die ihn für das Regenwasser unempfindlich machte, in dem er sich vor ein paar Minuten in seiner Schwäche noch aufgelöst hätte. Nein, er widerstand, das Wasser kam in Strömen herab, die Bewegungen des Wassers waren sogar in der Luft sichtbar, genauso wie es die Wellen des Windes vor ein paar Minuten in den Blättern gewesen waren.
     
    Er war wieder in seinen Körper zurückgekehrt. Er machte kehrt und ging den Weg wieder zurück, in den Pfützen spiegelte sich der schwarze Himmel. Sie war vielleicht nur ein paar Schritte entfernt, vielleicht verließ sie auch gerade erst das Dorf, als er an der Stelle vorbeikam, an der er vor fast einem Jahr in der Hitze umgefallen war. Es kann sein, dass er da an sie dachte, aber erst da. Und dass alles, was sie ihm bei verschiedenen Gelegenheiten gegeben hatte, wieder zurückkam. Er fühlte, wie die Spuren ihrer deutlich sichtbaren Anwesenheit wiederkamen, ihr Handeln wider die Regeln, als sie gekommen war, um ihn zu sehen, und ihn in die Enge getrieben hatte. Er erinnerte sich an die möglichen Wege, die sie ihm aufgezeigt hatte, an die mögliche Geschichte, die sie ihm gebracht hatte. Er erinnerte

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