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116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

Titel: 116 Chinesen oder so: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Heams-Ogus
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und ließ sie nicht mehr los, der sinnliche Anblick eines schwachen, am Boden liegenden Mannes, eines Mannes, der mit seinen Augen zu ihr sprach, das genaue Gegenteil der Männer, wie das Regime sie verherrlichte.
     
    Er war die Bewegung, ja, es ging so weit, dass die Zeit, die dieser Umgebung den Rhythmus vorgab, von ihm ausging. Er wurde die plötzliche Überzeugung nicht los, dass er es war, der dem ihn umgebenden Raum die Zeit und die Existenz der Zeit schenkte, und dieser innere Rhythmus reichte von den Wurzeln der Farne bis zu den gebissartigen Gipfeln des Sasso. Der Sasso war vielleicht das, woran die Zeit am wenigsten Halt fand, er, der aufgrund seiner riesigen Größe bei jedem Schritt, den man darauf zu machte, zurückzuweichen schien. Aber das änderte nichts, der Sasso schien sich sogar geschlagen zu geben: ein unbeweglicher und erdrückender Makrokosmos, und damit die perfekte Metapher für das Leben der Chinesen, das sich mikrokosmisch klein an seinen Hängen abspielte, er wurde plötzlich zu ihrer letzten Zuflucht, der machtlose Koloss, alles in allem die Karikatur seiner selbst. Und er flößte keine Angst mehr ein. Er war der Gnade eines freien Mannes ausgeliefert, der durch den Wind schritt, der der Welt die Zeit vorschlug. Die Sonne sank, und ihr Licht fiel schräg auf die Erde, fand seinen Weg unter den düsteren Deckel dichter Wolken, die den unausweichlichen Niederschlag in sich trugen, deren intensives, uniformes Grau aber zu dem sauren Grün der hohen Gräser und dem leuchtenden Ocker der wenigen Häuser oder Schäferhütten, die man hier und da sah, einen Kontrast bildete. Dieses lebendige Licht schien von der Erde auszugehen, und es stellte sich der Schwärze des Himmels entgegen, und er war mittendrin in all dem, mit der Sonne im Rücken, die seine Hose wärmte, so dass der grobe Stoff die Wärme bei jedem Schritt an ihn weitergab, wenn sein Oberschenkel mit dem Hosenstoff an der Hinterseite in Berührung kam. Er schritt weiter, seine Augen schickten Aufrufe überallhin, die niemand lesen konnte, auf seinem Gesicht lag der Versuch eines Lächelns. Er fühlte sich sensibel, durchlässig, wusste nicht mehr, ob das ihn umgebende Plateau sich womöglich in ihm erstreckte und er dessen Hülle war, er ging weiter, lauschte dem Knirschen seiner Schritte auf dem Kiesweg, die hohen Gräser, die sich in Wellen gegenseitig immer wieder umarmten, die Dünung, die durch sie hindurchlief, kam von weitem heran, kam näher, gabelte sich, er war allein, er nahm die Hände aus den Taschen, öffnete die Fäuste, hielt seine Fingerkuppen gegen den Wind, ließ sie die Frische spüren, spreizte die Finger. Er fühlte sich erneut ganz durchlässig, die Frequenzen der Außenwelt empfangend, deren tausend Atemzüge, deren tausend Variationen von Wärme, deren tausende Nuancen des Lichts auf ihn und tief in ihn hinein trafen, der hervorsprudelnd, brodelnd, sich selbst offenbart war, er spürte diese entgegengesetzten Formen von Druck auf ihn einwirken, die ihn bedrohten, aber zugleich dafür sorgten, dass er durchhielt und weiterging und fühlte. Alles war gespannt, der Himmel grau, trotz des metallischen Lichts, das die Steine und Felder intensiv zum Leuchten brachte, jede Weizenähre prall und reif, prall auch die bewegliche, geschmeidige Luft, die überall, wo sie auf die Haut traf, schlangenförmige Schauer darauf malte. Und er bis oben hin voll mit Vergangenheit, die es galt hinauszudrängen, bis oben hin voll mit sich heftig Weg bahnenden Lüsten, der Lust, wiederaufleben zu lassen, voll mit grimmiger Glückseligkeit, die an die Oberfläche trieb, voll mit einem Leben, das ihn überraschte und von neuem durchströmte, in der Einsamkeit dieses Plateaus, das, kurz bevor das Gewitter losbrach, in unwirklicher Reglosigkeit dalag.
     
    Sie vertraute ihr dieses Geheimnis an, und an dem Tag hörte niemand, wie sie in dem Augenblick, als ein Luftzug einen Fensterladen zuschlug, gestand, dass sie ihn dieses Mal nicht einfach nur gesehen, sondern gesucht und wiedergefunden hatte. Dass sie es so eingerichtet hatte, öfter als sonst an diesem Camerone vorbeizugehen, wo sie eigentlich nichts zu tun hatte. Dass sie sich beim Gedanken daran, ihn unter seinesgleichen vielleicht nicht wiederzuerkennen, geschämt hatte, was aber schnell hinweggefegt worden war von der Eindeutigkeit in dem Moment, als ihre Blicke sich erneut trafen. Niemand hörte, wie sie diese wenigen erschütternden Worte aussprach: Fast gegen seinen Willen

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