116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)
Rückweg dachte.
Er kehrte ins Lager zurück, gestärkt, durchnässt, sich selbst zurückgegeben.
Dies war eines der letzten Male, dass ein Chinese auf das Plateau hinaufging.
All die Tage seit ihrer Ankunft in Isola, all die Tage seit Tossicia und sogar schon vorher, in diesem Lager, wo er und die anderen nichts getan hatten, als immer nur zu gehen, um durchzuhalten, um die Leere zu überbrücken, um weiterzubestehen. Er und die anderen waren all die immer gleichen Tage hindurch die vertrauten Silhouetten gewesen, die durch das Tal irrten, in den Augen der Bewohner waren sie diese Bewegungen gewesen, diese tagtäglichen Einschnitte. Doch das war die Zeit der immer gleichen Tage, und diese Zeit war längst vergangen.
Die Geschichte war hereingebrochen, und mit ihr Einschnitte von anderer Tiefe. Am 8 . September war der Waffenstillstand, den das Königreich Italien mit den Alliierten geschlossen hatte, bekanntgegeben worden, und alle Karten wurden neu gemischt. Und dass der Sasso rasch auf den Titelseiten der Zeitungen erschien, lag nicht an den Chinesen, die an einem seiner Hänge lebten, sondern daran, dass auf seinem Gipfel, in einem ziemlich unsicheren Gefängnis mit dem pompösen Namen Campo Imperatore, heimlich ein gestürzter Mussolini festgehalten worden war, den die Meute, obwohl sie sich ein paar Wochen zuvor noch für ihn begeistert hatte, fallen gelassen hatte, bevor der Große Faschistische Rat ihn Ende Juni absetzte. Und am 12 . September hatte dieses Operetten-Gefängnis ohne wirkliche Bewachung einem Luftkommando nicht standgehalten, das ein Hitler aus Deutschland geschickt hatte, der hin- und hergerissen war zwischen Misstrauen seinem bedrängten italienischen Verbündeten gegenüber und der Notwendigkeit, in Südeuropa wieder die Initiative zu ergreifen. Diese Flucht hatte sich nur wenige Kilometer vom Kloster entfernt abgespielt, fast noch in Sichtweite. Als das Flugzeug vom Sasso abhob, waren die ersten Augen, die es erblickten, die eines chinesischen Gefangenen. Da konstruiert einer ganze Reiche, träumt, dass er der neue Caesar wäre, und endet als Marionette in den Augen eines verlorenen Menschen. Da träumt einer von der Macht, träumt, dass er die Verkörperung der Macht wäre, und kann dann als ein machtloser, lächerlicher, kaum hörbarer Punkt am Himmel über den Abruzzen nicht einmal den allertraurigsten Menschen beeindrucken. Derjenige, der den Krieg über sie gebracht und sie darunter begraben hatte, war eine Zeit lang dieser Punkt im Flugzeug gewesen, dann hatte er in der Ferne neue Kräfte gesammelt und war anschließend so unangenehm wie nie zuvor wieder hervorgestoßen, nunmehr jedoch Hitlers Willen unterworfen, ein Angeber im Taschenformat, der den einfallenden Deutschen die Tür aufhielt.
Damit wurden die Abruzzen dazu verdammt, zur Front zu werden. Das folgenlose Gemurmel der muffigen Tage war durch Geflüster, Komplotte, Botschaften ersetzt worden. Ein nervöses Universum hatte die trägen Nebel der im Schlamm stecken gebliebenen Zukunft verscheucht. Alles hing von ein paar unterschiedlichen Worten ab, von Blicken, die sich in Zeichen verwandelten, von Handzeichen, die Aktionen in Gang setzten. Vom Himmel aus betrachtet wehte derselbe Wind durch dieselben Bäume, verließen dieselben Menschen dieselben Häuser, um sich auf dieselben Felder zu begeben, aber das winzige Räderwerk des Aufstands hatte sich eingemischt. Auf dem Sasso ging der Sommer zu Ende, und die Zuckungen des Krieges hatten ihre Wirkung gezeigt. In der Ferne sprachen die Waffen, Truppen fuhren mit gedrosselter Geschwindigkeit durch Isolas Straßen. Sogar im Kloster der Mönche vom Orden der Passionisten hatte sich eine unerhörte Szene abgespielt. Auf der Allee, die zum Heiligtum führte, waren zum ersten Mal, seit diese Geschichte aufgeschrieben wurde, seit am 16 . Mai 1942 der Konvoi mit den Hundertsechzehn oder so angekommen war, wieder Lastwagen aufgetaucht. Die Klammer schloss sich also wieder, und diesmal waren es deutsche Lastwagen. Irgendein unterer Dienstgrad, aus dem der Krieg einen wichtigen Mann gemacht hatte, war gekommen, um zu inspizieren. Er wollte ein paar Gebäude im Dorf beschlagnahmen und hatte dabei, was nicht sehr verwunderlich war, an das allergrößte gedacht, das Kloster. Im großen Saal hinter dem Eingangsbereich, unter den bröckelnden Arkaden hatte der Soldat, der unangekündigt mit seiner Eskorte erschienen war, verlangt, den Superior zu sprechen, der auch sofort erschien.
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