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116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

Titel: 116 Chinesen oder so: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Heams-Ogus
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zerstreutes Gedächtnis überall verteilte. Sie lauschte den wirren Worten der alten Frau, die ebenso sehr nach dem Klang zu suchen schien wie nach dem Sinn, die Alltagssorgen, die Hitze, die Worte umkreisten die Gedanken, blieben aber immer weniger daran haften: der Name des Ehemannes, der ohne Ankündigung auftauchte, einfach so, und dann wieder verschwand, der vergessen wurde, der niemals ausgesprochen worden war. Das Nahe, das Ferne, das schwelende Feuer des Krieges, alles, was im Dorf geredet wurde, konnte durch sie hindurchgehen, Widersprüche, Zustimmung oder Hass auf den Faschismus, Unterstützung oder Verachtung, die Faschisten als Beschützer, die lächerlichen Faschisten, das Mehl, das nicht mehr kam, die Straße, die nicht instand gesetzt wurde, die Faschisten, die sie bei ihrer Niederlage alle mit hinunterreißen würden, das Brot, das nicht gut war, ihr Sohn, der nicht schrieb, warum schrieb ihr Sohn nicht?, dabei funktionierte doch die Post, die anderen hatten doch Briefe bekommen, sie nicht, das Fenster da müsste geschlossen werden, sonst würde es gleich einen Luftzug geben.
    In der Feuchtigkeit wartete die Tochter ab, bis dieses Sprudeln sich beruhigt hatte, und jedes Mal sah sie zu, wie sie langsam müde wurde, schläfrig wurde und einnickte, in einen Halbschlaf sank, den ihre Anwesenheit ihr offenbar gestattete.
     
    Er ging immer weiter und fand nach und nach Gefallen an der Vorstellung, sich irgendwo in dieser Landschaft einzunisten, mit ihren unterirdischen Bewegungen, mit ihren hohen Gräsern, deren Zittern von dem Gewitter kündete, das unmittelbar bevorstand, mit dieser sandigen, trockenen, mürben Erde, auf die bald der Regen prasseln würde. Auf einmal war er ganz und gar dort, umgeben von der wirbelnden Luft, diesem Licht, das noch für ein paar Minuten das schwarze, schimmernde Grau der vom Sasso heranziehenden Wolken hervorhob, bevor diese es in Beschlag nahmen, er war hier, die Luft, deren Kühle jetzt spürbar wurde, strich über sein Gesicht, wühlte in den Furchen seiner Falten und seiner halbgeschlossenen Augen, die Brise, die jetzt Wind war, veranlasste den Mann, der da ging, den Kopf zu heben, diesen einen Chinesen von hundertsechzehn oder so, der sich einmal, das erste Mal seit langer Zeit, beinahe wohlfühlte in diesem Verschwimmen der Sinne, wo Licht, Klang und Geruch seiner Innenwelt ein wenig von der Außenwelt erzählten. Und dieses Verschwimmen war eine Kraft, eine Energie.
    So lange Zeit hatte er gespürt, wie seine Hoffnungen ihm unter den Füßen weggezogen wurden, so viele Tage hatte er zugesehen, wie die einzelnen Teile seines Lebens ihm einer nach dem anderen abhandenkamen, indem sie wie in einem Kaleidoskop ineinanderflossen, Tage, an denen er seine Reglosigkeit gespürt hatte und wie diese Reglosigkeit ihn inmitten des ihn umgebenden gewaltigen Spektakels überrollte, und jetzt war er auf einmal, ohne es zu merken, in einen anderen Zustand gekippt, hatte das schwarze Universum in seiner Bewegung gedrosselt, es sich sozusagen unterworfen, und sich in dem scheinbaren Aussetzen der Zeit in Bewegung gesetzt. Und ausgerechnet dort, auf diesem windigen Plateau, auch wenn es ihn nicht schonte und ihm vor allem seine maßlose Einsamkeit in Erinnerung rief, an diesem Ort und niemals zuvor und nirgendwo sonst nahm irgendwo in seinem Inneren eine Entschlossenheit wieder Gestalt an, ein unverwechselbares Gefühl, das er sofort benennen konnte, Lust.
     
    Als sie spürte, dass sie nun woanders war, als sie sicher war, dass ihre Träume alles einhüllen würden, strich sie mit dem Handrücken über ihr erschöpftes Gesicht, zog sich einen Stuhl ans Bett, setzte sich hin. Und manchmal, oft sogar, öffnete sie sich. Sie sprach in die ihr geschenkte Stille hinein. Deshalb hörte nie jemand, wie sie ihre Einsamkeit beweinte, erzählte, was ihr fehlte, zugab, dass die Abwesenheit dieses Bruders ihr als Deckmantel diente, dass es eine Einsamkeit von ganz anderer Art war, die ihr Leben verkümmern ließ. Und es hörte auch niemand, wie sie an einem dieser vielen Tage unter nicht zurückgehaltenem Weinen von der Aufregung erzählte, die das Zusammentreffen mit einem der Gefangenen bei ihr ausgelöst hatte, wie es in sie eingebrochen war, das Luftloch, wie ihr Herz geschlagen hatte, diese Aufregung, die etwas anderes war als Liebe, würde man das am Fußende vom Bett einer schlafenden Mutter erzählen, die beinahe schon im Sterben lag?, doch diese Aufregung war auch wie eine Umarmung

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