1167 - Die Tochter des Dämons
Wissen darin und zugleich eine Kälte, die er nicht begreifen konnte.
Dann schrie er auf, als er plötzlich die Finger der Frau an seinem rechten Handgelenk spürte wie eine Klammer. So hart und fest griffen sie zu, und er schrie noch einmal auf, als die Frau sein Gelenk zur Seite drehte und ein stechender Schmerz bis hinein in den Oberarm jagte. Er konnte das Messer nicht mehr halten. Er ließ es fallen und blieb zitternd in Alinas Griff stehen.
»Ich lasse dich laufen. Du kannst gehen. Aber lass dich nie mehr in meiner Umgebung blicken, sonst wird es verdammt böse für dich ausgehen.«
»Ja, ja, ja!« Der Mund schnappte auf und wieder zu. »Ja, ich haue ab. Danke. Ich…«
Sie ließ ihn los und gab ihm dabei einen Stoß. Der junge Gangster taumelte zurück. Er drehte sich noch einmal um die eigene Achse und rannte weg.
Zurück blieben eine ausgeraubte Handtasche und ein Rucksack, den Alina wie in Trance an sich nahm und neben sich auf die Bank stellte, auf die sie sich fallen ließ. Sekundenlang saß sie da, ohne sich zu bewegen. Dann schlug sie die Hände vors Gesicht und schüttelte immer wieder den Kopf.
Sie begriff sich selbst nicht mehr. Sie hatte sich verhalten wie nie zuvor in ihrem Leben. Und sie hatte diese Reaktion auch nicht gelenkt. Sie war einfach über sie gekommen und hatte dabei all ihr Handeln diktiert. Der Typ war bewaffnet gewesen, doch nicht sie hatte vor ihm Furcht bekommen, sondern er vor ihr.
Das zu begreifen, war für Alina beinahe unmöglich. Er hatte Angst gehabt, als er sie angeschaut hatte. Genau in ihr Gesicht. Dort musste sich etwas verändert haben. Und zwar in den Augen.
Ja, sie waren es. Genau - die Augen. Nichts anderes. Nur ihre Augen. Und dabei dachte sie wieder an ihren toten Vater und dessen Erbe. Er hatte über ihre Augen gesprochen. Es musste einfach einen Zusammenhang zwischen dem Erbe und ihm geben.
Was hatte der Typ gesehen?
Sie wollte es genau wissen. Der Spiegel steckte in ihrem Rucksack. Fieberhaft öffnete sie die Rückentasche, wühlte für einen Moment herum und hielt den Spiegel schließlich vor ihr Gesicht.
Nein, da war nichts.
So wie sie ihre eigenen Augen sah, kannte sie sie auch. Da hatte sich nichts verändert. Es war alles so geblieben. Es war alles so verflucht normal.
Trotzdem hatte sich der junge Räuber beinahe vor Angst in die Hose gemacht. Und sie hatte ihn als Skelett gesehen. Es war ihr durch die »neuen« Augen gelungen, in seinen Körper hineinzuschauen, was eigentlich unmöglich war. Es sei denn, sie hätte sich eine Röntgenbrille aufgesetzt. Das war nun nicht der Fall.
Alina Wade begann zu frieren. Sie gestand es sich selbst nicht gern ein, aber sie fürchtete sich vor sich. Es war für sie unmöglich zu sagen, was beim Besuch am Grab des Vaters genau mit ihr passiert war, aber etwas von seiner Kraft oder Macht, die nicht vergangen war, musste in sie eingedrungen sein.
Alina war völlig fertig. Sie blieb auf der Bank sitzen und schaute ins Leere. Hitzewellen und Kälte wechselten sich in ihrem Körper ab. Die letzte Stunde, das musste sie zugeben, hatte sie zu einem anderen Menschen gemacht.
Wer war ihr Vater gewesen? Wer war dieser Mann, der ihr ein derartiges Erbe hatte hinterlassen können? Seine Augen, also die Augen eines Toten mussten auf sie übergegangen sein. Oder nur die Kraft und das Besondere, das in ihnen steckte? Es war auch egal, denn im Endeffekt blieb das Ergebnis gleich.
Alina hörte Schritte. Sie knirschten über die kleinen Steine hinweg. Sie hob den Kopf an und drehte ihn nach links.
Von dort war die ältere Frau im grauen Mantel gekommen. Sie trug einen brombeerfarbenen Hut.
Dazu passte farblich die Tasche, auf die sie zuging, sich bückte und sie an sich nahm. Sie durchsuchte sie flüchtig, zuckte dann mit den Schultern und gab einen seufzenden Laut von sich.
Alina Wade war von der Frau noch nicht gesehen worden. Oder sie hatte auch nur so getan. Alina rührte sich nicht. Sie schaute auf den Rücken der anderen Person und stellte fest, dass sie deren Skelett nicht durchschimmern sah.
Seltsam. Hier war wieder alles so normal. Das war die nächste Überraschung in diesem verdammten Spiel des Lebens, das für Alina andere Regeln bekommen hatte.
Die ältere Frau mit dem Hut auf dem Kopf drehte sich um und bekam Alina zu Gesicht.
Sie tat überrascht, dann lächelte sie, hob etwas verlegen die Schultern und fragte: »Kann ich mich für einen Moment zu Ihnen setzen, junge Lady?«
Alina nickte
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