1168 - Nach den Regeln der Hölle
kümmerte ich mich nicht, denn Dorian war wichtig.
Er hatte mich längst gesehen, sich auch zur Seite gedreht und schrie mich jetzt an.
Ich wusste nicht, weshalb er diesen Schrei losgelassen hatte. Möglicherweise wollte er sich selbst Mut machen und hatte auch vor, sich mit dem Messer auf mich zu stürzen.
Ich schoss im Laufen.
Die geweihte Silberkugel schlug in seinen Hals. Die Angriffswut war zunächst einmal gestoppt. So konnte ich zur Seite laufen und mein Kreuz an mich nehmen.
Die Wärme war zu spüren. Ich warf noch einen kurzen Blick auf Alina, die von Jane in die Höhe gezerrt wurde. Eine andere Frau stand in der Nähe, sagte nichts und starrte nur auf die Kreatur der Finsternis, die dabei war, sich zu verwandeln.
Der Körper bäumte und beulte sich auf. Die Menschenhaut zerriss, das Gesicht zerplatzte, um der Drachenfratze endlich freie Bahn schaffen zu können.
Vor meinen Augen verwandelte er sich tatsächlich in einen drachenähnlichen Teufel. Aus den Armen wuchsen Schwingen. Mit Schrecken sah ich, wie schnell die Metamorphose ablief. Noch einmal wollte ich ihn nicht entwischen lassen und griff ihn deshalb mit dem Kreuz direkt an. Er war kein Mensch mehr, er war kein Drache. Man konnte ihn nur als eine halbfertige Mutation bezeichnen, die zwischen den beiden Stadien hin- und hermutierte.
Wade schaffte es nicht mehr, sich völlig zu verwandeln. Drachenkopf, Menschenkörper, da entstand etwas in einem ständigen Wechsel, ohne sich für einen Zustand entscheiden zu können.
Ich machte dem Spuk ein Ende.
Plötzlich klemmte das Kreuz irgendwo zwischen seinem Kopf und den Flügeln fest. Ein silbriges Licht breitet sich aus, und ich hörte einen irren Schrei, der die Stille zerfetzte und vom Nebel aufgesaugt wurde.
Dann schossen plötzlich dunkelrote Flammen mit grünen und schwarzen Rändern in die Höhe. Es war ein Feuer, das niemand mehr löschte und das praktisch auf der Stelle tanzte.
Und es vernichtete die Kreatur der Finsternis. Sie löste sich nicht nur in Rauch auf, sie explodierte an einigen Stellen. Brennende Fetzen eines unseligen Körpers flogen in die feuchten Schwaden hinein und wehten weg wie ausgebranntes Papier.
Ich stand ein paar Schritte entfernt und schaute zu. Die Kreatur der Finsternis brannte nicht lange.
Sehr bald sanken die Flammen zusammen, und es blieb kaum mehr als ein Reagenzglas voll Asche zurück. Aus dem Dunkel oder dem Nebel hörte ich einen letzten Schrei, als wäre auch die Seele des Dorian Wade zerfetzt worden.
Danach wurde es still.
Ich ging hin und steckte das Kreuz wieder ein.
***
Jane Collins stand bei Suko, der sich aufgesetzt hatte und noch ziemlich benommen war. Sie würde sich um ihn kümmern, und sie lächelte mir zu, als ich Alina Wade ansteuerte, die alles gesehen hatte, aber nicht reagierte. Sie stand wie angefroren auf der Stelle und wollte nicht zu ihrer Mutter schauen, einer älteren Frau im dunklen Mantel, die sich plötzlich in Bewegung setzte und einfach über die Gräber hinweglief.
Ich wollte sie stoppen. Zuerst durch einen Ruf und dann durch Taten, aber Alina war dagegen.
»Nein, John, lassen Sie sie in Ruhe. Ich will sie nicht mehr sehen, niemals. Sie hat mit ihrem eigenen Schicksal genug zu tun. Ich habe nie eine Mutter gehabt, und ich werde auch nie eine haben.«
»Gut, wenn Sie das so sehen, muss man das einfach akzeptieren. Was ist mit Ihrem Vater?«
Alina drehte mir ihr Gesicht zu. »Bitte, John, schauen Sie in meine Augen.«
Ich tat es.
»Was sehen Sie?«
»Sie sind normal.«
»Ja, sie sind normal«, wiederholte Alina unter Tränen. »Und sie werden auch bis an das Ende meines Lebens normal bleiben, das schwöre ich Ihnen. Der Kontakt zu meiner Familie wird nicht mehr aktiviert. Ich weiß es.«
Wenn sie das so deutlich sagte, musste ich es ihr glauben und konnte nur hoffen, dass sie Recht behielt…
ENDE des Zweiteilers
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